Öffentliche Debatten über Prostataleiden und volle Windeln

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Unsere Privatsphäre verschwindet im digitalen Zeitalter zunehmend. Der US-Professor Jeff Jarvis findet das gut.

„Die Privatsphäre hat Fürsprecher. Die braucht auch die Öffentlichkeit“, schreibt der amerikanische Autor Jeff Jarvis in seinem Buch „Public Parts“. Veröffentlicht man seine privaten Gedanken und Probleme, sagt Jarvis, profitiere man davon. Der Journalist und Professor an der Universität New York nimmt seine Thesen ernst. So twitterte er über seine Prostataerkrankung, seinen in Folge nicht mehr ganz funktionstüchtigen Penis und über die Windeln, die er nach einer Operation tragen musste. Dadurch habe er „viele wertvolle Ratschläge“ von anderen Prostatakrebspatienten erhalten: „Je mehr wir teilen, desto mehr profitieren wir auch davon, was andere teilen.“ Das Internet sieht Jarvis als virtuellen Marktplatz, auf dem man sich austauscht. Lediglich Passwörter, Kreditkartennummern und sein genaues Einkommen hält Jarvis geheim.

Aber nicht aus Gründen der Privatsphäre, wie er sagt. Seine iTunes-Playlist verrät er nicht, weil sie „zu banal, zu peinlich“ ist. Abgesehen davon versteht Jarvis nicht, was wir vor anderen verbergen sollten: „I am a public man. My life is this open book.“ Ganz anders sieht das Hans Zeger von der Arge Daten. „Die Privatsphäre ist ein Grundrecht“, sagt er. „Es ist der Raum, wo ich nicht ständig und auf der Stelle bewertet werde. Das hat mit verstecken nichts zu tun.“ Wo Jarvis verpasste Chancen ausmacht, behauptet Zeger das Gegenteil: „Kreativität lebt davon, dass sie nicht immer gleich einer Bewertung unterzogen wird. Ich muss auch Dinge sagen können, die nicht zu hundert Prozent ausgegoren sind. Sonst verstummt man.“

Das Internet sei verantwortlich für mehr Öffentlichkeit, mehr Demokratie, mehr Freiheit, behauptet Jarvis. „Heute hat jeder seine eigene Gutenberg'sche Druckmaschine.“ Auch die Veränderung durch den Buchdruck und die Erfindung der Fotokamera habe die Menschen verunsichert. „Wenn wir uns heute auf die Privatsphäre versteifen, könnten uns Möglichkeiten entgehen und wir werden im Zeitalter der Links wichtige Verbindungen verpassen.“

Er geht sogar so weit zu sagen, es sei egoistisch, Informationen zurückzuhalten. Durch die Konfrontation mit seiner Krankheitsgeschichte hätten sich viele Männer vorsorglich untersuchen lassen, schreibt Jarvis. „Die Privatsphäre ist die Domäne der Egoisten.“ Sie zu schützen koste uns. So könnten Krankheitsdaten Wissenschaftlern helfen, neue Medikamente und Therapien zu entwickeln.

„Diesen Zugang gibt es sowieso schon“, entgegnet Zeger. „Und die Daten nehmen ja keinen Schaden, wenn man die Namen der Patienten nicht dazu schreibt.“ Mehr Gesundheitsdaten führten außerdem nicht automatisch zu besseren Medikamenten. „Das ist sehr naiv, fast schon peinlich“, sagt Zeger.

Er gehöre nicht zu den Menschen, die Social Media kritisieren und davor warnen, Informationen ins Netz zu stellen. „Freie Meinungsäußerung ist ein Grundrecht. Aber das ist auch die Privatsphäre.“ Menschen hätten außerdem das Recht, ihre Meinung zu ändern. Was auf Foren im Internet gepostet wird, wäre nichts anderes als das, was sich Menschen am Abend bei einem Bier erzählen. „Was am Stammtisch gesagt wird, ist vielleicht schon am nächsten Tag wieder vergessen. Im Internet untersteht aber alles auf lange Zeit der Bewertung und Kontrolle.“

Nicht jede Information, die man im Internet über eine Person findet, ist in ihrem Interesse. Was, wenn man beim Ego-Googeln auf Unangenehmes oder Falsches stößt? Das beste Gegenmittel, so Jarvis, sei, so viel wie möglich über sich selbst freizugeben, um das Bild im Netz zu beeinflussen. Es wäre nicht die richtige Strategie gegen unerwünschte Berichte, selbst „möglichst viel Unsinn“ zu posten, entgegnet Zeger. Vielmehr sollte der Bürger das Recht haben, Informationen von Webseiten löschen zu lassen. „Wir haben das Recht auf Vergessen.“

Wenn ein Schuldirektor online ein Foto von einer Lehrerin mit einem Bier in der Hand findet und sie daraufhin feuert, wer hat dann etwas falsch gemacht, fragt Jarvis. Es sei weder die Lehrerin, die in ihrer Freizeit ein Bier trinkt, noch Facebook, wo das Bild zu finden ist, sondern der Direktor, der die Lehrerin deshalb kündigt. „Das Problem ist nicht die Technik oder die Information, sondern wie diese genutzt werden“, sagt Jarvis. Hier herrscht Einigkeit. Zeger: „Es sind nicht die Daten selbst problematisch, sondern ihre Bewertung.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.03.2012)

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