Reißt die Waisenhäuser nieder!

Ein heikles Experiment vergleicht verschiedene Erziehungswege. In Armenhäusern aufzuwachsen hat die schlimmsten Folgen für die Entwicklung von Kindern.

Was darf die Wissenschaft? So etwas? Da gehen Forscher in ein Waisenhaus, suchen 136 Kinder aus und lassen den Zufall spielen. Jedes Kind bekommt eine Nummer, die wird auf einen Zettel notiert, die Zettel kommen in einen Hut, daraus wird wieder gezogen: Alle Kinder mit geraden Zahlen bleiben im Waisenhaus, alle mit ungeraden kommen zu Pflegeeltern. Kann man so etwas machen, kann man es im Namen einer Wissenschaft machen, gar im Namen einer, die um das Kindeswohl besorgt ist?

Man hat es gemacht, die geschilderte Szene ist nicht fiktiv, sie spielte sich in den 90er-Jahren in Bukarest ab, auf Einladung der rumänischen Regierung waren Kinderärzte um Charles Nelson (Harvard) aus den USA gekommen. Sie sollten testen, in welcher Umgebung verwaiste oder verstoßene Kinder sich besser entwickeln, im Waisenhaus oder bei einer Pflegefamilie. Die bloße Fragestellung mag Kopfschütteln auslösen, aber (1) kann das an (unseren) kulturellen Gewohnheiten liegen, anderswo gab und gibt es Gemeinschaftserziehung aller Kinder. Und (2) gab es zum Zeitpunkt des Experiments die Institution von Pflegeeltern in Rumänien überhaupt nicht, die Forscher mussten sie für das Experiment erst etablieren.

Dann wurden die Kinder – alle jünger als 31 Monate – verteilt, dann verfolgten die Forscher ihre Entwicklung mit Tests, die nach 42 bzw. 54 Monaten durchgeführt wurden. Zudem verglich man beide Gruppen mit einer dritten, Kindern, die ganz „normal“ in Familien groß wurden: „Die kognitive Entwicklung von Kindern, die im Waisenhaus geblieben waren, blieb deutlich unter der von Kindern in Familien und auch unter der von Kindern bei Pflegeeltern. Die negativen Folgen waren am deutlichsten für die kleinsten Kinder“ (Science, 318, S.1937).

Tests an Kindern in Armenhäusern?

Dass Kinder im Waisenhaus zurückbleiben, zeigen die Forscher mit ihren Daten, aber die Daten zeigen sie erst nach langen Vorreden, ihnen war sichtlich nicht ganz wohl bei dem Experiment. Auch das Journal Science die Publikation mit einem Kommentar zur Ethik solcher Forschungen (318, S.1874). Denn es hat schon zu viele böse Experimente an Kindern in irgendeinem Armenhaus der Dritten Welt gegeben – das postkommunistische Rumänien darf man dazu rechnen – vor allem eines sorgte in den 90er-Jahren für innerwissenschaftliche Debatten: Im südlichen Afrika testete man, ob die Kurzzeitbehandlung mit einem im Westen auf lange Zeit verabreichten Medikament (AZT) die Übertragung von HIV seitens Schwangerer auf ihre ungeborenen Kinder verhindern kann; dazu etablierte man eine Kontrollgruppe, die ein Placebo bekam, diese Föten waren also gänzlich ungeschützt. Geht das? Sollte nicht auch in Medikamentests jeder die bestmögliche Behandlung erhalten, spätestens dann, wenn sich zeigt, dass das getestete Medikament erfolgreich ist?

Natürlich sollte es das, aber es ist nicht immer so einfach, bei Tests von Impfstoffen etwa muss man geradezu darauf warten, dass Getestete die Krankheit bekommen. Forscher und Ärzte helfen sich mit einer Vielzahl von Kriterien – so sollen etwa Testpersonen ihr mündiges Einverständnis erklären –, aber auch das hilft nicht immer: Kinder wie die Waisen in Bukarest kann man nicht fragen, bei ihnen hilft nur der letzte Halt: Man darf ihnen keinen Schaden zufügen. Den hatte auch keines der Kinder: Für manche hat sich die Situation verbessert – für die, die zu Pflegeeltern kamen –, für die anderen blieb sie unverändert. Auch das tröstet nicht sehr. Aber das: Die rumänische Regierung hat dem Experiment eine Tat folgen lassen und ein Gesetz beschlossen, demzufolge kein Kleinkind – unter zwei Jahren – in ein Waisenhaus kommen soll.

EXPERIMENTE. Ethik

Kein Schaden! Das ist das zentrale Kriterium für jedes Experiment an Menschen, es klingt banal, die Teufel stecken in den Details. Das gilt auch für den Weg, auf dem der Nutzen eines Experiments auch den Testpersonen bzw. ihren Regionen zugute kommen soll.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.12.2007)

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