Russland: Nichts wie raus aus der "Monostadt"

(c) EPA (Maxim Shipenkov)
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Städte, die komplett an einer Firma oder einer Branche hängen, sind ein schweres Erbe der sowjetischen Siedlungspolitik. Angesichts der Krise gibt es nun Pläne, die Menschen aus den „depressiven“ Gegenden abzusiedeln.

Moskau. Von Togliatti nach Tichwin ist es weiter als von Rom nach Berlin. Ganze 1600 km liegen zwischen den beiden russischen Städten. Die eine, das Zentrum der russischen Ladaproduktion, am klimatisch verträglichen Mittellauf der Wolga. Die andere im winterlich dunklen Norden produziert Bestandteile für Eisenbahnwaggons und bald auch diese selbst.

Noch sind die Koffer in Togliatti nicht gepackt. Aber schon demnächst dürften hunderte Familien ihr Hab und Gut einwickeln und sich auf die Reise in den Norden begeben. So zumindest sieht es das neue Umsiedlungsprogramm der russischen Regierung vor. An die 500 Mio. Rubel (zwölf Mio. Euro) hat die zuständige Agentur für Wohnkreditumschuldung (ARIZK) fürs Erste einmal bereitgestellt. Die Menschen in Togliatti sollten den Absprung aus der „Monogorod“ schaffen. So nennt man in Russland eine in der Sowjetzeit entstandene „Monostadt“, die am Tropf eines einzigen Unternehmens oder mehrerer Unternehmen mit einem zusammenhängenden Produktionsprozess hängt.

750.000 Menschen – eine Firma

Im Falle Togliattis hängen 750.000 Einwohner an Russlands größtem Autoproduzenten Avtovaz. Nachdem der einheimische Automarkt im Vorjahr um die Hälfte eingebrochen ist, kann Avtovaz nicht mehr alle seine 100.000 Mitarbeiter halten. Und wird sie auch in Zukunft, sollte die längst überfällige Modernisierung und Rationalisierung des Werks gelingen, wohl kaum wieder einstellen. Die Wirtschaftskrise hat nicht nur Russlands jahrelangen Boom jäh unterbrochen und im Vorjahr zu einer Rezession von 8,5 Prozent geführt. Sie hat auch gerade das gravierende Problem der Monostädte akut gemacht.

Das Erbe der sowjetischen Siedlungspolitik wiegt schwer, zumal diese Städte teilweise in den unwirtlichsten Gegenden angesiedelt sind. Freilich, nicht allen von ihnen geht es schlecht, manche – wie die Ölstädte Westsibiriens – leben blendend. Insgesamt zählt die ARIZK 350 Monostädte mit 16 Millionen Einwohnern. In 17 solcher Städte sei die Situation kritisch.

Im Unterschied zu Monostädten in anderen Ländern sind in den russischen die Infrastruktur und der Dienstleistungssektor jenseits der Hauptfabrik sträflich unterentwickelt, sodass zusätzliche Arbeitsmöglichkeiten rar sind. Dazu kommt, dass dort wie da die Rohstoffe, an denen solche künstlichen Städte hängen, versiegen.

Schließung einer ganzen Stadt?

Zwei Dutzend Monostädten hat die Regierung im Vorjahr staatliche Zuschüsse und Kredite in der Höhe von einer halben Mrd. Euro zugesagt. Nun werden neue Hilfspakete geschnürt. Vereinzelten Aussagen zufolge denkt der Staat im Fall von kleineren und völlig aussichtslosen Städten sogar über die Schließung und Totalumsiedlung nach.

Die Umsiedlung einiger ehemaliger Avtovaz-Mitarbeiter versteht sich als Testlauf. Den Übersiedlungswilligen wird nicht nur ein Arbeitsplatz im neuen Waggonwerk in Tichwin zugesagt. Mit einer Hypothek auf das zurückgelassene Eigenheim erhalten sie von der Agentur auch einen vergünstigten Kredit zum Wohnungskauf in der neuen Stadt.

Das Programm hat seine Pferdefüße, weshalb es vermutlich auch nur von wenigen Menschen angenommen werde, schreibt die Zeitung „Wedomosti“. Zum einen gestalte sich die Bewertung von Immobilien in den depressiven Regionen derzeit schwer. Zum anderen würden die Leute mit der Auswahlbeschränkung auf die neue Stadt Tichwin wieder in eine Monostadt versetzt. Aber immerhin von der Logik her liege man mit dem Programm richtig, meint Natalja Zubarevich vom Institut für Sozialpolitik in Moskau: Man müsse den Leuten einfach helfen, aus den depressiven Städten auszubrechen.

Die Russen brauchen diese Hilfe offenbar mehr als andere. Aus eigenem Antrieb nämlich schaffen sie es kaum. „Die geografische Mobilität ist gering“, meint Sergej Gurijev, Rektor der New Economic School in Moskau: „Der russische Arbeitsmarkt ist der am wenigsten dynamische unter allen osteuropäischen Ländern“.

Statistisch ziehen in Russland nur zwei Prozent der Bürger in ihrem ganzen Leben innerhalb des Landes auf der Suche nach Arbeit um, während es in den USA an die 20 Prozent sind. Das bisherige russische Programm zur Umsiedlung, das sich vor allem auf Regionen des äußersten Nordens bezieht, scheiterte vielfach an administrativen Barrieren, vor allem aber an den unterentwickelten Wohnungs- und Finanzmärkten, wie Gurijev erklärt. Untersuchungen würden zeigen, dass Russen, die aus einer depressiven Region in eine prosperierende umsiedeln wollen, den Umzug angesichts der hohen Kreditzinsen mit ihrem miesen Lohn nicht vorfinanzieren können. Das starke regionale Lohngefälle werde daher nicht ausgeglichen.

Der Teufelskreis ist perfekt

Und damit sei der Teufelskreis in den betroffenen Regionen perfekt: Weil die Menschen nicht wegkommen und in ihrer Region keine Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt herrscht, bleiben die Löhne niedrig, beziehungsweise werden im Zuge der Krise noch weiter gekürzt.

AUF EINEN BLICK

In der Sowjetunion wurden mitten am Land sogenannte „Monostädte“ gegründet – Städte, die nur von einer Firma oder Branche abhängen. Da es vielen dieser Unternehmen zurzeit nicht gut geht, stehen inzwischen auch die Städte vor dem Abgrund.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.02.2010)

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