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Wie man brave Bürger zu Ladendieben macht

To match feature TESCO/ In Großbritannien und Australien ist es fast Volkssport, die Self Service Checkouts zu überlisten.
To match feature TESCO/ In Großbritannien und Australien ist es fast Volkssport, die Self Service Checkouts zu überlisten.(c) REUTERS (Danny Moloshok)
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Selbstbedienungskassen verführen zu Tricksereien. Die erforschten Motive: Zufall, Kick und Kapitalismuskritik.

Karotten sind sehr gesund, vor allem für die Augen. Also erscheint es erfreulich, wenn die Briten davon immer rauere Mengen kaufen: im Vorjahr um 800 Millionen Stück mehr als noch 2013. Aber auch seltsam, denn als besonders hip oder prestigeträchtig gilt die knackige Wurzel bis heute nicht. Man ahnt: Da ist was faul. Eine australische Supermarktkette kam als Erste drauf. Sie setzte laut Kassabons weit mehr Karotten um, als sie jemals auf Lager hatte. Dafür schnellte der Schwund bei Avocados, Beeren und Trauben in die Höhe. Des Rätsels Lösung: Obst und Gemüse hat keinen Barcode. Die Selbstbedienungskassa erkennt nur das Gewicht, den Artikel gibt der Kunde am Bildschirm ein. Und weil Karotten per Kilo unschlagbar billig sind, klicken viele auch dann gerne auf das orangefarbene Symbol, wenn sie teurere Ware nach Hause tragen. In Großbritannien und Australien ist es fast Volkssport, die Maschinen zu überlisten. Dort gibt es Self Service Checkouts schon viel länger als in Österreich, wo der leblose Terminal erst seit Kurzem die leibhaftige Kassiererin ersetzt. Statistiker vermessen das wirtschaftliche Debakel: Drei Milliarden Pfund ist der Wert der Artikel, die jedes Jahr an den 50.000 britischen Expresskassen gestohlen werden. Jeder vierte Brite und jeder dritte Australier, die sie benutzen, erlauben sich regelmäßig das kleine Verbrechen. Die Kriminologin Emmeline Taylor hat den Verfall der Sitten erforscht. In anonymen Onlinebefragungen gaben die Unholde des Alltags ihre Motive preis.

Das berührende Ergebnis: Mehr als die Hälfte sind ohne Absicht auf die schiefe Bahn geraten. Niemals würden sie auf die Idee kommen, etwas aus einem Regal zu stehlen. Zum Sündenfall kommt es still und leise an der Kassa: Sie vertippen sich, scannen nicht ordentlich – und müssen merken, dass ihr Fehler ohne Folgen bleibt. Also schrauben sie ihre Risikoeinschätzung nach unten und üben, fast ohne es zu wollen, eine neue Untugend ein. Unser Mitgefühl gilt aber auch jenen armen Sündern, denen nach etwas Schwung für ihr fades Leben dürstet. Für sie gehört der Adrenalinkick bald unverzichtbar zum Einkaufserlebnis dazu. Die Digitalgeneration ist es gewohnt, sich spielerisch an IT-Systemen zu messen. Die Reiferen fordern das System von Markt und Gesellschaft heraus. Wie ungerecht ist es doch, wenn Konzerne Jobs killen, kleine Läden verdrängen und fette Profite einstreifen! So wird der Diebstahl zum politischen Akt. Überhaupt: Wer selbst scannen muss, dem gebührt ein Rabatt. Und so hat man dann, eh man sich's versieht, eine Nation von Ladendieben. Freilich mit stark geschärftem Blick auf soziale Missstände. Als hätten sie die vielen Karotten dann doch gegessen.

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