Deutsche Kritik am neuen Semmeringtunnel

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ARCHIVBILD SEMMERING- BASISTUNNEL / SONDIERSTOLLEN(c) APA (ROBERT JAEGER)
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Die heimischen Tunnelprojekte basierten auf viel zu optimistischen Annahmen, brächten zu wenig volkswirtschaftlichen Nutzen und wirkten dadurch „wohlstandsmindernd“, sagt ein deutsches Gutachten.

Wien. „Die volkswirtschaftlichen Kosten des Tunnels sind doppelt bis viereinhalb mal so hoch wie der volkswirtschaftliche Nutzen. Das Projekt wirkt somit wohlstandsmindernd für die österreichische Gesamtgesellschaft“: So qualifiziert das Münchener Verkehrsplanungsbüro Vieregg-Rössler in einem Gutachten die Pläne für den Semmering-Basistunnel, deren Realisierung nun langsam in die Gänge kommt. Nachsatz: „Es ist volkswirtschaftlich nicht sinnvoll, den Tunnel zu bauen.“

Die Münchener Verkehrsexperten, zu deren Referenzen etwa Rentabilitätsberechnungen für die Magnetschwebebahn Transrapid und den umstrittenen neuen Stuttgarter Hauptbahnhof zählen, waren vom Unternehmer Franz Fally, einem prononcierten Tunnelgegner, beauftragt worden, eine Kosten-Nutzen-Rechnung nach dem Modell zu erstellen, nach dem in Deutschland Infrastrukturprojekte für den Verkehrsplan 2015 berechnet werden. Das 96-seitige Gutachten kommt dabei zu Ergebnissen, die in atemberaubendem Ausmaß von den offiziellen österreichischen Berechnungen, die dem Baubeschluss zugrunde liegen, abweichen.

Methodische Unterschiede

Die Österreicher gehen von einem Kosten-Nutzen-Effekt von 5,11 aus. Das heißt, dass der volkswirtschaftliche Nutzen des Tunnels die Kosten um das 5,11-Fache übersteigt. Vieregg-Rössler kommen bei Anwendung des deutschen Bewertungsverfahrens dagegen nur auf 0,22 bis 0,46. Projekte, deren volkswirtschaftlicher Nutzen unter eins liegt, sollten nicht verwirklicht werden, heißt es in dem Gutachten.

Die großen Unterschiede ergeben sich teilweise aus der Methodik: Beim deutschen Verfahren, das für alle Projekte zum Verkehrswegeplan 2015 zwingend vorgeschrieben ist, werden die sogenannten „Kreislaufeffekte“ nur sehr geringfügig berücksichtigt. Die österreichische Berechnung geht beim Semmeringtunnel dagegen von einem volkswirtschaftlichen Multiplikatoreffekt von 2,5 aus. Das heißt, dass jeder investierte Euro 2,5 Euro Wertschöpfung generiert. Nach Fertigstellung des Tunnels nimmt das Infrastrukturministerium starke positive volkswirtschaftliche Effekte durch die Standortverbesserung an.

Beides zweifeln die Münchener Gutachter an: Wenn der Multiplikatoreffekt tatsächlich so funktionieren würde, könnte der Staat die Wirtschaft einfach ankurbeln, indem er massiv kreditfinanziert investiert, ohne auf die Qualität der Investitionen achten zu müssen. Und die BIP-Effekte seien für die Region zwar stark stimulierend, für die gesamte Volkswirtschaft aber ein Nullsummenspiel: Wenn jemand statt in Amstetten dann in Mürzzuschlag investiert, sei das für die gesamte Volkswirtschaft irrelevant, was in den österreichischen Rechenwerken aber nicht zum Ausdruck komme.

Güterverkehr stagniert

Wenig anfangen können die deutschen Gutachter auch mit den viel zu optimistischen Verkehrsprognosen, auf denen das gesamte Tunnelbauprogramm fußt. Der Eisenbahngüterverkehr stagniere insgesamt eher. Das treffe insbesondere auf die osteuropäischen Länder an der Baltisch Adriatischen Verkehrsachse zu, deren Teil Semmering- und Koralmtunnel sein werden. Österreich habe als Basis für seine Güterverkehrsprognosen mit dem Jahr 2008 einen Ausreißer nach oben ausgesucht, was die gesamte Prognosekette nach oben verzerre. Unter diesem Aspekt sei die angenommene Steigerung des Güterverkehrs um 177 Prozent auf 28,57 Mio. Tonnen bis 2055 völlig unrealistisch, abgesehen davon, dass dieser Zeitraum für eine seriöse Prognose ohnehin viel zu lang sei. Deutschland gehe von viel geringeren Steigerungen aus. Aber selbst, wenn es eine Beinahe-Verdreifachung des Verkehrs geben sollte, wäre ein Kosten-Nutzen-Verhältnis von eins nicht erreichbar, heißt es in dem Gutachten.

Kurzum: Die volkswirtschaftlichen Berechnungen zum Semmeringtunnel gingen von veralteten Preisständen, zu optimistischen Verkehrsprognosen und „nicht regelkonformen Nutzenkomponenten“ aus. Selbst, wenn man davon ausgehe, dass es bei volkswirtschaftlichen Berechnungen „große Ermessensspielräume gibt“, seien die österreichischen Annahmen zu optimistisch. Projekte mit solchen Kosten-Nutzen-Profilen könne man eventuell mit betriebswirtschaftlichen oder Engpassüberlegungen rechtfertigen, jedenfalls aber nicht mit volkswirtschaftlichen Argumenten.

Übrigens: Für die laufenden Bahnprojekte kommen die Deutschen über längere Zeit gerechnet auf zusätzliche Staatsausgaben von 1,4 Mrd. Euro im Jahr. Das sind 147 Euro pro Österreicher. Wollte man das steuerfinanzieren, müsste man die Lohnsteuer um sechs Prozent anheben... (ju)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.06.2014)

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