Ökonomen: Zielsicher daneben

Aufschwung oder Abschwung?
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Können Volkswirte Rezessionen vorhersagen? Ein Blick in die Vergangenheit zeigt: Nein, bisher lagen sie verlässlich daneben. Warum wir ihre ungenauen Prognosen trotzdem brauchen.

Die Wirtschaft wird nächstes Jahr um 1,9 Prozentpunkte wachsen, schätzt das Institut für Höhere Studien (IHS). Das klingt nicht nur beruhigend, sondern auch exakt und wissenschaftlich. Das Problem: Es ist vermutlich schlichtweg falsch. Das Tempo, in dem Volkswirte ihre Prognosen nachbessern müssen, lässt ahnen, was davon zu halten ist. Zugegeben, ein paar Zehntel-Prozentpunkte auf oder ab sind schwer im Vorhinein zu errechnen. Hauptsache, die großen Krisen werden erkannt.

Aber ist das der Fall? IWF-Ökonom Prakash Loungani hat sich schon 2001 angesehen, wie treffsicher seine Zunft ist. Er untersuchte, wie viele der 60 Rezessionen in den 1990er-Jahren von den Ökonomen dieser Welt ein Jahr zuvor vorhergesagt wurden. Die Antwort: keine einzige.

Man könnte meinen, dass die Forscher daraus gelernt haben und zumindest vor der Finanzkrise 2008 und den darauf folgenden Rezessionsjahren bis 2012 rechtzeitig warnen konnten. Doch weit gefehlt. Gemeinsam mit Hites Ahir hat Loungani seine Studie wiederholt. Das Resultat ist ähnlich schlecht: Von 62 Rezessionen, die 2008 und 2009 eintraten, sagten die Ökonomen ein Jahr zuvor keine voraus. Im Juni 2008 erwartete die OECD Wirtschaftswachstum für 2008 und 2009. In Wahrheit folgten die zwei schwersten Krisenjahre seit den dreißiger Jahren. Erst als die Krise nicht mehr zu übersehen war, näherten sich die Prognosen der Realität an. 2010 lagen sie beinahe richtig. Doch eine echte Besserung war das nicht. Denn schon ein Jahr später traf die Rückkehr der Wirtschaftskrise die Ökonomen erneut wie aus heiterem Himmel.


Politische Zahl. Wie kann es sein, dass gut bezahlte Wissenschaftler just dann versagen, wenn man sie am dringendsten braucht? Eine Erklärung könnte sein, dass BIP-Wachstum auch gerne politisch instrumentalisiert wird. Regierungen nutzen ihren Einfluss auf die Forscher und „wünschen“ sich Prognosen, die ihre Pläne unterstützen. Doch das alleine kann es nicht sein. Denn Ahir und Loungani haben auch untersucht, ob staatliche Volkswirte schlechter abschneiden als die private Konkurrenz. Die Antwort ist gut für staatsnahe Volkswirte, aber schlecht für die Branche: Ob Staat oder privat, bei Prognosen versagen Ökonomen gleichermaßen.

In der Branche ist das keine Neuigkeit: „Ich bin bei Konjunkturprognosen sehr zurückhaltend“, sagte etwa Lars Feld, seit 2011 der jüngste Wirtschaftsweise im Sachverständigenrat der deutschen Regierung, zur „Presse“. „Es ist klar, dass die Bandbreite für Fehler sehr groß ist, je weiter wir in die Zukunft blicken. Fatal ist es erst, wenn man Wendepunkte nicht erkennt.“ So wie im Herbst 2008, als der Sachverständigenrat statt des realen Einbruchs um fünf Prozent für 2009 noch eine rote Null prognostizierte. „Da hätte man vielleicht einmal in den Hamburger Hafen fahren sollen, um sich anzusehen, wie die Containerschiffe stillstehen.“

Auch Christian Keuschnigg, Direktor des IHS, kennt die Grenzen seiner Wissenschaft. Zu gerne würde er daher über Bandbreiten sprechen, statt sich auf eine exakte Zahl festlegen zu müssen. Doch der Finanzminister braucht die EINE Wachstumsprognose für das Budget und Redakteure verlangen die EINE Zahl für ihre Artikel. Die kann dann eben nicht ganz stimmen.

Prognosen sind eine „Mischung aus Alchemie und Wissenschaft“, kritisiert Frank Riedel, Professor für Mathematik und Ökonomie an der Universität Bielefeld. Sie beruhen großteils auf Schätzungen anderer Ökonomen. Dazu kommen technische Mängel in den Modellen selbst. Sie beruhen meist immer noch darauf, dass die Finanzwirtschaft reibungslos läuft. Den Strukturwandel, den die Krise 2009 mit sich gebracht hat, konnten die Ökonomen in ihren Modellen nicht schnell genug nachbilden konnten, erklärt Keuschnigg. Der IHS-Chef warnt vor zu hohen Erwartungen: „Die Bevölkerung glaubt, dass Ökonomen die Zukunft punktgenau vorhersagen können. Aber eine Prognose kann nie eintreten“, sagt er. „Bei Ökonomen genauso wenig wie bei Unternehmen oder bei Privaten.“


Beipackzettel. Darauf verzichten sollten wir aber nicht. Prognosen bieten den Rahmen, an dem Politiker, Unternehmer und Private Abweichungen von der Normalität erkennen. Nur die scheinbar exakte Wachstumszahl sollte in den Hintergrund rücken. Spannender ist, den „Beipackzettel“ zu lesen, mit dem die Volkswirte ihre Schätzungen relativieren. So sieht man auch bei der IHS-Prognose, dass „1,9 Prozent mehr Wachstum“ nur als Schlagzeile für den Teletext taugt. Wer genauer nachfragt, erfährt, dass dieser Wert genauso gut bei 1,2 oder 2,6 Prozent liegen könnte. Und auch das nur, wenn es in der Ukraine und im Irak ruhig bleibt, keine Unwetter kommen und auch sonst alles ruhig bleibt. Wir werden sehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.06.2014)

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