Arbeiterstrich: Sechs Euro für den Bruder vom Parkplatz

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Auf dem größten Arbeiterstrich Wiens stehen Männer den ganzen Tag wie Prostituierte herum. Haben sie Glück, gibt es Knochenarbeit auf dem Bau - für ein paar Stunden oder Tage, illegal und ohne jede Sicherheit.

Vier Spuren gehen nach Osten, vier nach Westen, und vier weitere tauchen unter die Erde. Darüber spannt sich eine wuchtige S-Bahn-Brücke. Im Schatten des elfstöckigen Plattenbaus hasten vereinzelt Passanten über den Gehsteig. Rechts weisen Schilder den Weg nach Slowenien, links ins Stadtzentrum. Wenige Kilometer weiter nördlich beginnt der Glanz des ersten Wiener Bezirks, doch hier, auf dem Matzleinsdorfer Platz, scheint er Lichtjahre entfernt. Nur die langen Kolonnen adretter Mittelklassewagen erinnern daran, dass sich der Platz in einer der reichsten Regionen Europas befindet. Aber auch die Audis, Toyotas und BMWs bekommen etwas Graues, wenn sie die Kreuzung passieren.

Ein paar Meter entfernt stehen mehrere Dutzend Männer vor einem Baumarkt und warten. In Gruppen lungern sie auf dem Parkplatz und auf dem Gehsteig herum und fixieren jeden, der vorbeikommt, mit ihrem Blick. Sie sind um sechs Uhr morgens da, mittags, und um fünf Uhr abends auch. Ihre dunklen Pullover und Stoffhosen sind abgewetzt, an den Schuhen klebt Lehm. Einige unterhalten sich leise, die meisten schweigen. Man kennt sich – keiner ist das erste Mal hier, auf dem größten Arbeiterstrich von Wien.

Im Schaufenster direkt gegenüber locken Plakate mit langbeinigen Damen in Latexunterwäsche. Und auch diesseits der Straße herrscht gespanntes Warten auf Kundschaft. Auch die Männer verkaufen sich selbst, doch jede Erotik fehlt. Es gibt hier keine Bettelmützen, keine angebotenen Zeitschriften, keine vorgestreckten Verstümmelungen. Sondern nur Knochenarbeit gegen Euro – wenn man Glück hat. Für ein paar Stunden, für ein paar Wochen.

„Was, du willst Helfer machen?“, fragt Laszlo und lächelt. „Helfer brauchen man nix. Zu viele Helfer, Bruder. Besser Meister.“ Laszlo hat seine Wollmütze tief in die Stirn gezogen, zwei dicke Nägel dienen ihm als Ohrschmuck. Er ist 28 Jahre alt, kommt aus Ungarn und könnte mit seiner Statur in jedem Nachtlokal als Rausschmeißer anheuern. Aber Laszlo erzählt mit verhaltenem Stolz, dass er Maurermeister ist, daheim in Ungarn. „Und ich kann Deutsch. Ohne Deutsch ist nix.“

Kurze Zeit später fährt ein weißer, verrosteter Ford Transit auf den Parkplatz. Zwei unrasierte Gestalten steigen aus und gehen auf die Männer zu. Bis auf ihre Lederjacken sehen sie genauso aus wie die Wartenden. Sofort sind sie von einer Menschentraube umringt, alle reden laut durcheinander. Schnell fällt Laszlo einem der „Arbeitgeber“ ins Wort, dreht sich zu seinen Kollegen um und schnauzt sie an. Sie treten einen halben Schritt zurück, schweigen.


Dann wird verhandelt. Viele Akzente auf diesem Parkplatz sind undefinierbar, doch die Verkehrssprache ist Deutsch. „Kannst du Arbeit?“ – „Kann alles Arbeit.“ „Kannst du Rigips, Beton?“ – „Was, Beton? Hab ich gemacht sehr viel.“ „Kabel auch? Lampe? Holz?“– „Sicher.“ In einem Punkt muss Laszlo trotzdem passen. „Wasser zu schwer. Wasser ich nix verstehe.“ Dann nennt er seinen Preis: sieben Euro pro Stunde. „Gut, Bruder. Ist gut“, lautet die Antwort. „Aber sieben zu viel. Mach weniger.“ Laszlo sträubt sich. Die beiden Lederjacken preisen nun ihrerseits den Job an: große Baustelle, zwei Tage Arbeit, vielleicht länger, viel zu tun, pünktliche Bezahlung – „Alles korrekt“. Bei sechs Euro willigt Laszlo ein. Am nächsten Morgen ist Arbeitsbeginn.

Nun scheint Laszlo sehr erleichtert. In gelöster Stimmung erzählt er, dass er zusammen mit einem „Kollega“ für 180 Euro im Monat ein Zimmer im 21. Bezirk mietet. Natürlich könnte er auch ganz legal arbeiten, meint Laszlo: „Wenn korrekt, kein Problem. Aber ich Problem. Ich nicht korrekt.“ Er erwähnt seine 20.000 Euro Schulden in Ungarn und wechselt das Thema.


Oder sie jagen dich davon. Die meisten Arbeiter hier seien aus Rumänien, einige aus Polen, ganz wenige aus Ungarn. Zwischen fünf und zehn Euro gebe es pro Stunde, die „Chefs“ seien zur Hälfte privat, zur Hälfte gewerblich. Laszlo beschreibt die Jobs: So gut wie immer geht es um Schwerstarbeit auf dem Bau. Dem Anfänger gibt er den Rat, jeden Abend auf Bezahlung zu bestehen – denn alle hier wüssten, dass man auch tagelang arbeiten kann, um am Ende einfach davongejagt zu werden. „Bei 50 Chefs sind 40 korrekt. Zehn nicht korrekt.“ Die meisten Österreicher würden zahlen, Deutsche auch. Dann zählt Laszlo die Nationalitäten auf, die seiner Meinung nach zu oft den Lohn schuldig bleiben. Und andere, die man immer beim „Business“ in der Stadt, aber nie auf der Baustelle antrifft. Er flucht und spuckt aus. Dann sagt Laszlo leise, dass er weg will von hier, lieber heute als morgen. Am liebsten nach Süden, nach Spanien. Dort sei das Wetter gut, und Arbeit gebe es auch immer. Aber das sei nicht einfach: „Musst habe Glück.“

Seit Jahren beobachtet Michael Lepuschitz den Arbeiterstrich genau. Er ist Stadthauptmann vom Polizeikommando des zehnten Bezirks, Favoriten, in dem sich die Triester Straße befindet. Seine Meinung zum Thema überrascht: „Die Leute, die da stehen, sind keine bösen Menschen. Sie wollen Geld verdienen – und das ist bemerkenswert – mit Arbeit. Aber sie tun etwas, was verboten ist.“ In Wien gibt es mehrere Arbeiterstriche, die Orte variieren ständig. Um die 50 Personen stehen regelmäßig in der Triester Straße, wie viele es insgesamt gibt, ist schwer abzuschätzen. Die Anzahl der Arbeiter habe sich in den vergangenen Jahren kaum verändert, sagt Lepuschitz: „Ich denke, auch die Wirtschaftskrise wird sich kaum darauf auswirken.“


Das System ist immer dasselbe. Die Arbeiter versammeln sich vor Baumärkten oder an großen Ausfallstraßen, an denen Autofahrer leicht anhalten können. Auftraggeber sind überwiegend Private, weil viele Firmen das Risiko scheuen. Der Stundenlohn dieser Arbeiter unterbietet alles, was auf dem Schwarzmarkt üblich ist, bei Weitem. Auf der anderen Seite sind es die Häuselbauer, die sehr oft aus Niederösterreich kommen und deren Nachfrage einen Markt schafft – und so den Arbeiterstrich überhaupt ermöglicht.

Riskant ist das Geschäft für beide Seiten: Arbeiter müssen immer damit rechnen, um den Lohn geprellt zu werden. Auftraggeber dagegen können nie sicher sein, wie die Qualität der Arbeit ist. Wird man erwischt, müssen beide Seiten mit einer Anzeige und einer Geldstrafe rechnen, gelegentlich auch mit einer Haftstrafe. Bei unbefugter Gewerbeausübung droht eine Verwaltungsstrafe von 3600 Euro für den Anbieter und 2180 Euro für den Auftraggeber sowie weitere Sanktionen. Allerdings gibt Lepuschitz zu, dass es dazu eher selten kommt, ebenso wie zu Festnahmen direkt vor Ort. Fast alle Arbeiter kämen aus EU-Staaten und hätten eine gültige Aufenthaltsgenehmigung. Auch sei es nicht verboten, auf dem Gehsteig zu stehen. Und mit dem Einsteigen in ein fremdes Auto sei noch kein Gesetz verletzt. Erst an der Baustelle kann der Straftatbestand nachgewiesen werden – doch dazu bedürfe es personalaufwendiger Observationen. Die Bekämpfung der Schwarzarbeit finde statt – etwa durch die Fremdenpolizei, die Sicherheitspolizei, die Finanzämter. Trotzdem stellt Lepuschitz fest: „Aus polizeilicher Sicht hat der Arbeiterstrich nicht die oberste Priorität. Raubüberfall, Einbruchsdiebstahl, Kfz-Diebstahl – das sind Delikte, die speziell den zehnten Bezirk schwer belasten. Es ist alles auch eine Frage der Verhältnismäßigkeit. Und die Leute vom Arbeiterstrich sind mir alle Mal lieber als Berufseinbrecher.“

Ein paar Tage später, abends, kommt Laszlo wieder zum Parkplatz. Er will es versuchen, obwohl die Aussichten um diese Uhrzeit noch schlechter sind als sonst: In den nächsten zwei Stunden bietet niemand etwas an. Eine große Müdigkeit liegt jetzt in Laszlos Blick. „Viel Glück, Bruder“, sagt er zum Abschied und reicht die Hand. Dann fährt Laslo in den 21. Bezirk, schlafen. Und träumt von Spanien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.04.2009)

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