Was Armut im Sozialstaat bedeutet

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In entwickelten Staaten spricht man nicht von absoluter Armut, sondern von Armutsgefährdeten. 2017 waren das 1,56 Millionen Menschen in Österreich. Das Konzept ist umstritten.

Wien. Gibt es in einem Wohlfahrtsstaat wie Österreich echte Armut? Die Frage ist umstritten, das Terrain ideologisch umkämpft. Auch die Statistiker haben ihre liebe Not mit den Definitionen. In Entwicklungsländern wird Armut gemessen, indem man jene zählt, die unterernährt sind oder die mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen müssen. In entwickelten Industrieländern spricht man von Armuts- und Ausgrenzungsgefährdeten. Aktuell sind das bei uns 1,56 Millionen Menschen – 18,1 Prozent der Bevölkerung. Seit 2015 stagniert die Quote, im Langzeitvergleich geht sie zurück.

Die Crux mit dieser Messung ist, dass sie eine relative Armut beschreibt. Als armutsgefährdet gelten Haushalte, deren verfügbares Einkommen inklusive Sozialtransfers weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens beträgt. Für Singles liegt die Schwelle aktuell bei 1238 Euro im Monat, der Betrag erhöht sich für Paare und mit Kindern. 14,4 Prozent der Bevölkerung fallen in diese Gruppe. Mit steigendem Wohlstand steigt auch die Armutsgrenze. „Die Quote kann niemals null sein“, sagt Konrad Pesendorfer, Chef der Statistik Austria.

Weniger Arme bis 2020

Am ehesten Auskunft über die tatsächliche Armut gibt ein anderer Indikator, die „materielle Deprivation“. Auf Urlaub fahren, ein Auto, einen Fernseher oder eine Waschmaschine besitzen, jeden zweiten Tag Fleisch oder Fisch essen, die Wohnung im Winter warm halten – wer sich vier dieser Dinge nicht leisten kann, gilt als definitiv arm. Das trifft auf 323.000 Menschen zu. Schließlich messen die Statistiker die Erwerbsbeteiligung der Erwachsenen (ohne Pensionisten). 545.000 Personen leben in einem Haushalt mit keiner oder sehr niedriger Erwerbsintensität. Sie arbeiten weniger, als sie theoretisch könnten, und sind stark armutsgefährdet – besonders betroffen sind Alleinerzieherinnen.

Armutsgefährdet, materiell depriviert, niedrige Erwerbstätigkeit: Wer in mindestens eine dieser Kategorien fällt, zählt zu den 1,56 Millionen Armuts- und Ausgrenzungsgefährdeten in Österreich. Laut EU-Zielen sollte Österreich bis 2020 um 235.000 weniger Menschen in dieser Kategorie haben als 2008. „Bisher wurde eine Reduktion um 136.000 Personen erreicht“, so Pesendorfer. Langzeitarbeitslose und Nicht-EU–Bürger sind besonders häufig armutsgefährdet, klassische „Arme“ wie Obdachlose und illegale Migranten sind nicht erfasst.

Vergleiche sind schwierig

Mit 18,1 Prozent Armuts- und Ausgrenzungsgefährdeten liegt Österreich unter dem EU-Schnitt von 23,5 Prozent. Wobei die Statistiker mit Ländervergleichen vorsichtig sind. Die Daten sagen mehr über die Teilhabe an den gesellschaftlichen Möglichkeiten aus als über tatsächliches Elend und existenzielle Entbehrungen. So ist Tschechien das EU-Land mit der niedrigsten Quote an Armutsgefährdeten – was nicht heißt, dass es dort weniger Arme gibt als in Österreich. Das sei mehr als „sehr gleiche Einkommensverteilung auf relativ niedrigem Niveau“ zu interpretieren, so Pesendorfer.

Ob die relative Messung der Armut sinnvoll ist, steht seit Jahren in der Diskussion. Diese Art der Berechnung sage wenig über die tatsächliche Armut in Industrieländern aus, finden Kritiker. Die Vereinten Nationen empfehlen, neben den Einkommen auch andere Indikatoren wie die Lebenserwartung einzubeziehen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.04.2018)

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