Was als Versuch begann, wurde für oststeirische Billa-Mitarbeiterinnen zur jahrzehntelangen Routine: Sie stehen um vier Uhr auf, um 140 Kilometer und eine Busfahrt später in den Wiener Filialen zu beginnen. „Die Presse am Sonntag“ begleitete sie.
Silvia Gössl hat Angst zu verschlafen, seit sie nicht mehr im Rhythmus ist. Eigentlich sei das seltsam, wenn man bedenkt, dass sie seit fast zwei Jahrzehnten nach Wien pendelt – früher zu Zielpunkt, jetzt zu Billa. Die zierliche Frau ist in Altersteilzeit. Ein- bis zweimal die Woche wartet sie in ihrer beige-roten Firmenbluse noch hier an der Haltestelle, wo die Bundesstraße durch Hartberg verläuft, auf den Pendlerbus. Es ist 4 Uhr 50, als die Sonne aufgeht und der Fahrer einbiegt. „Jemand, der das nicht macht, kann sich das gar nicht vorstellen, gell?“, sagt Gössl mit ihrer sanften Stimme und einem leichten Lächeln beim Einsteigen. „Es ist alles Einstellungssache.“ Viele Alternativen habe sie nicht gehabt. „Hier gibt es nicht so eine Fluktuation in den Filialen wie in Wien, da geht keine weg – außer sie ist krank oder schwanger.“
Der Bus gondelt weiter durch die schlafenden oststeirischen Dörfer und Straßen, liest hier in Lafnitz, dort in Rohrbach Passagiere auf. Wer um diese Uhrzeit an der Haltestelle wartet, will mit einiger Sicherheit mit. Die zugestiegenen Frauen richten sich schnell in ihren Sitzen ein. Es gilt, die rund 140 Kilometer und eineinhalb Stunden, die sie von der Wiener Südeinfahrt trennen, zum Schlafen zu nützen. Für alle beginnt um sieben eine mindestens zehnstündige Schicht.