Das Rätsel der 6800 verschwundenen Goldbarren

Der Goldwäscher Kenneth Noye wurde 1996 wegen Morders verhaftet. Das Gold bleibt verschollen.
Der Goldwäscher Kenneth Noye wurde 1996 wegen Morders verhaftet. Das Gold bleibt verschollen. Reuters
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Es war der größte Raubzug der britischen Geschichte: Sechs Räuber entdeckten bei einem Überfall auf dem Londoner Flughafen 6800 Goldbarren. Nur elf davon sind wieder aufgetaucht.

Seine notorische Unpünktlichkeit wurde Anthony Black fast zum Verhängnis. Wie so oft tauchte der Wachmann auch an diesem Samstagmorgen, den 26.   November   1983, mit zehn Minuten Verspätung zur Arbeit auf. Seine vier Kollegen hingegen waren pünktlich auf die Minute erschienen. Aus gutem Grund: Nur einer von ihnen hatte den Schlüssel, um das Eingangstor zur Lagerhalle zu öffnen. Er sperrte für die gesamte Gruppe auf. Um 6.30   Uhr begann ihre Schicht bei der Sicherheitsfirma Brink’s Mat auf dem Londoner Flughafen Heathrow.

Die Wachmänner saßen gemeinsam im Aufenthaltsraum, als einer von ihnen noch einmal zum Eingang musste, um Black die Sicherheitstür zu öffnen. Fast hätte er dabei die sechs bewaffneten Männer sehen können, die wenige Meter entfernt in ihrem Wagen warteten. Der Wachmann achtete aber nur auf Black. Er wirkte zerzaust, sogar etwas blass um die Nase. Es verwunderte seine Kollegen also nicht, dass er nur kurz einen guten Morgen wünschte und sofort ins Bad verschwinden wollte. Die Sicherheitsmänner wussten nicht, dass er ganz andere Pläne hatte. Sie hatten auch keine Ahnung, dass bald der größte Goldraub in der britischen Geschichte stattfinden sollte. Das eigentlich Erstaunliche an der Geschichte ist aber: Auch den sechs Räubern war das nicht bewusst. Denn der legendäre Brink’s Mat Robbery sollte sich nur durch Zufall ereignen.

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Der Raubzug verursachte zwar einen immensen Schaden, doch er war relativ schnell wieder vorbei: Nicht einmal 20   Minuten vergingen ab dem Zeitpunkt, als die Gangster die Halle stürmten – und bis zu dem Moment, als sie das Gelände mit ihrem Van wieder verließen. Fast konnte der Kleinbus das Gewicht ihrer Beute nicht tragen. Kein Wunder: Sie war immerhin mehr als drei Tonnen schwer. Denn anstatt wie erhofft etwas mehr als eine Million Pfund in bar mit nach Hause nehmen zu können, wurden es mehr. Viel mehr: Die Räuber fanden in der Lagerhalle ganze 6800 Barren aus purem Gold. Damaliger Wert: 26 Millionen Pfund bzw. 725 Mil­lionen Schilling. In Euro wären es umgerechnet immerhin 47 Millionen gewesen. Der Raub trieb den Goldpreis in den kommenden Tagen sogar noch weiter in die Höhe, was den Wert der Beute sogar noch steigen ließ.

Aber zurück zur Lagerhalle, zurück zu Black. Anstatt auf die Toilette verschwand der Wachmann zum Eingangstor. Er öffnete seinen Komplizen die Tür. Und dann ging alles ganz schnell.

Black eilte zu seinen Securitykollegen zurück, rollte sich eine Zigarette. Nur wenig später wurde wird die Tür aufgestoßen, vermummte Männer stürmten den Raum mit ihren Gewehren. Sie befahlen den Wachmännern, sich auf den Boden zu legen, fesselten sie, begossen sie mit Benzin. Ihre Drohung: Sollten sie nicht kooperieren, würden sie sie anzünden. Die Diebe wussten genau, welche zwei Wachmänner sie brauchten, um zu der Beute zu gelangen. Black hatte es ihnen zuvor verraten.

Denn das Lagerhaus auf dem Londoner Flughafen galt als eines der sichersten der Welt. Der Raum, in dem sich die Tresore befanden, war durch eine Sicherheitstür verschlossen. Zwei Zahlenkombinationen waren nötig, um sie zu öffnen. Und nur zwei Wachmänner kannten je einen Code. Ähnlich waren auch die Safes selbst gesichert.

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Generalstabsmäßig geplant

Die Zahlenreihen änderten sich regelmäßig, und das war das Problem: Während einer der beiden Wachmänner sofort die richtigen Ziffern eingab, konnte sich sein Kollege nicht und nicht an den aktuellen Code erinnern. Erst kürzlich war er geändert worden, er brauchte einige Anläufe, bis ihm die richtige Kombination einfiel. Keine Sekunde zu früh: Denn die Lage schien soeben zu eskalieren, die Gangster hatten den Lauf der Waffe bereits auf ihn gerichtet.

Durch Zufall entdeckten die Räuber einige Paletten im Tresorraum. Darauf: 6800 Barren aus purem Gold, die eigentlich nach Hongkong transportiert werden sollten. Daneben wirkten die paar Diamanten, auf die die Gangster stießen, regelrecht unspektakulär. Sie schnappten sich – dank Transporthilfsmittel in der Halle – die Beute und verschwanden mit den Worten „Merry Christmas“. Wie gesagt, alles in weniger als 20 Minuten.

Als die Polizei in der Lagerhalle eintraf, waren die Diebe längst geflohen. Zurück blieben fünf Wachmänner und ratlose Beamte. „Der Raubzug war generalstabsmäßig geplant, wurde in Höchstgeschwindigkeit absolviert“, erinnert sich der Inspektor Tony Brightwell von Scotland Yard später in der Episode der Dokumentationsserie „Britain’s Biggest Heists“, die sich mit dem Brink’s Mat Robbery befasst. Nachsatz: „So etwas kann eigentlich nicht funktionieren. Außer es gibt einen Insider.“

Alle Wachmänner sollten die Szenen des Raubüberfalls nachspielen. Bei einem Sicherheitsmann fielen Unschärfen auf: bei Anthony Black. Schnell wurden die Beamten auch auf ein weiteres Detail aufmerksam: Blacks Schwester war mit einem bekannten Kriminellen verheiratet – einem gewissen Brian Robinson.

Eine Fälschung in Wien

Es dauerte nicht lange, bis Black gestand: Ja, er sei Komplize in dem Raubüberfall gewesen. Und sein Schwager sei einer der Räuber gewesen. Auch ein weiterer Mittäter wurde später von Black verraten – und verurteilt: Mickey McAvoy. Er verhielt sich nicht gerade unauffällig. Kurz nach dem Raub kaufte er sich eine Villa und legte sich laut „Guardian“ zwei Rottweiler zu. Ihre Namen: Brinks und Mat. Black selbst musste übrigens wegen Mittäterschaft für sechs Jahre ins Gefängnis. Von den vier weiteren Gangstern fehlte allerdings jede Spur. Genauso wie von den drei Tonnen Gold.

So fett die Beute der Kriminellen war, so schwierig war es, daraus Profit zu schlagen. Die Goldbarren trugen – wie üblich – eine registrierte Seriennummer. Um das Gold wieder in Umlauf zu bringen, musste man es also wieder einschmelzen und möglicherweise sogar weiterverarbeiten.

Kurz glaubten die Beamten, einen Teil davon gefunden zu haben. Und das ausgerechnet in Wien: Laut „New York Times“ wurden am 21.  Dezember   1983 fünf Männer in einem Hotel in der österreichischen Hauptstadt festgenommen. Vier Italiener und ein Österreicher trugen zehn Goldbarren bei sich, die dieselben Seriennummern wie die Beute aus London aufwiesen. Die Männer wollten sie in Wien weiterverkaufen, der Polizei wurde aber rasch klar: Es handelte sich um gefälschte Barren aus Wolfram, die nur mit Gold überzogen wurden. Warum sie ­tatsächlich die korrekte Seriennummer getragen haben, ist bis heute nicht bekannt.

Doch dann stieß die Polizei auf eine andere, weit heißere Spur: auf einen gewissen Kenneth Noye. Die Beamten verdächtigten ihn, die Goldbarren nach und nach in kleinen Beuteln aus London zu schmuggeln. Um sie schließlich – so die Theorie – gemeinsam mit Kupfer einzuschmelzen, um das Gold zu verunreinigen und so quasi zu tarnen. Experten glauben, dass die Hälfte der Beute auf diese Weise wieder in den Markt gebracht wurde. Sogar  der Besitzer der ursprünglichen Goldbarren, Johnson Matthey Bankers, soll auf diese Weise Teile des gestohlenen Goldes zurückgekauft haben.

Doch Noye zu überführen sollte sich als schwierig erweisen. Als zwei Polizisten eines Nachts sein Grundstück durchsuchen wollten, verrieten sie Noyes Hunde. Der Kriminelle erschoss einen der Beamten, wurde aber zunächst aus Notwehr freigesprochen. Später wurden elf Goldbarren auf seinem Grundstück gefunden. Noye konnte doch der Mittäterschaft (und Steuerhinterziehung) überführt werden. Er kam 1994 frei, musste aber wenig später wieder ins Gefängnis – wegen des Mordes an einem Autofahrer.

Das Gold, das bleibt allerdings weiterhin verschollen. Neben den Barren, die verschmolzen wurden, soll ein weiterer Teil irgendwo vergraben sein, glauben Experten. Andere meinen, dass jeder, der ein Goldstück in irgendeiner Form nach 1983 in Großbritannien gekauft hat, einen kleinen Teil der gestohlenen Beute mit sich trägt.

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