Deutschland: Die Mittelschicht schrumpft. Nicht.

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Die Bertelsmann-Stiftung warnt vor einer Erosion der Mitte, laut anderen Studien bleibt sie stabil. Des Rätsels Lösung: Auf die Definition kommt es an, denn die Mittelschicht ist kein wohldefinierter Begriff.

Berlin: Die Daten klingen dramatisch, und die Medien stürzen sich dankbar darauf: Die Mittelschicht in Deutschland ist in nur 13 Jahren um fünfeinhalb Millionen Menschen geschrumpft, von 65 auf 58 Prozent der Bevölkerung. Immer mehr Bürger machen sich Sorgen um ihre Zukunft. Denn wer in der Unterschicht landet, hat kaum noch Chancen auf einen Aufstieg. Das ist das Fazit einer Studie, die die Bertelsmann-Stiftung beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und der Uni Bremen in Auftrag gegeben hat.

Wie der schöne Zufall es will, wurde erst am Montag eine Arbeit der Konrad-Adenauer-Stiftung publik, die zum gegenteiligen Ergebnis kommt: Eine langfristige Erosion der Mittelschicht sei nicht festzustellen. Alles nur „Paranoia“, spitzte „Die Welt“ in ihrer Besprechung zu. Das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) Köln kam schon Ende August zum Schluss: Die Mitte ist stabil, die Angst vor dem Abstieg meist unbegründet.

Der Trick mit der Bandbreite

Ja was nun? Die Mittelschicht ist kein wohldefinierter Begriff. Fragt man die Menschen, scheint der langfristige Trend klar: Immer mehr fühlen sich ihr zugehörig. Das aber auch deshalb, weil sie am Computer und nicht mehr am Fließband arbeiten. Tatsächlich geht es um anderes: das Gefühl, am Wohlstand der Gesellschaft in gerechtem und gesichertem Ausmaß teilzuhaben. Somit schart sich die Mittelschicht ums Medianeinkommen, das die Gesellschaft in zwei gleiche Hälften teilt. In welcher Bandbreite, bleibt aber offen – und hier liegen die Tricks.

Das DIW legt sich auf den Bereich zwischen 70 und 150 Prozent des mittleren Einkommens fest, wie es schon die Böckler-Stiftung der Gewerkschaften tat. Bei dieser Abgrenzung schrumpft die Mitte tatsächlich von 1997 bis 2010 „nahezu kontinuierlich“ (obwohl der Trend sich abflacht). Weichen aber Bandbreite und Zeitraum davon nur ein wenig ab, sieht die soziale Welt gleich anders aus.

Die Studie der Adenauer-Stiftung der CDU gibt sich als zusammenfassende Metastudie besonders objektiv, legt sich aber nicht minder fest: auf 60 bis 200 Prozent des Medianeinkommens. Sicher nicht unplausibel, denn auf das Doppelte dieses Einkommens kommen auch nicht wenige Gymnasiallehrer-Haushalte. Doch siehe da: Die Zahl der Mittelschichtler ging so ab 1993 erst ein wenig rauf, dann ein wenig runter und ist seit Mitte der Nullerjahre konstant. Kein Grund zur Panik also für alle, denen eine stabile Mitte als Garant für sozialen Frieden gilt. Ähnlich das IW Köln: Die Gruppe, die dort 80 bis 150 Prozent des Medianeinkommens verdient, wurde seit 1991 nur geringfügig kleiner.

Abseits der Zahlenspielereien lässt sich resümieren: Gewaltige Umbrüche fanden in den letzten 20 Jahren nicht statt. Dabei hätten die Gründe nicht gefehlt, allen voran die Globalisierung und der technische Fortschritt. Durch sie steht sehr gut Qualifizierten die große Welt samt großem Geld offen, während es für Hilfsarbeiter schlicht keine Jobs mehr gibt. Aber der Staat hat die klaffende Schere beim Markteinkommen durch Umverteilung massiv korrigiert, in extremer Form im Osten nach der Wende. Von den Transfers profitiert die untere Mittelschicht, zahlen muss die obere. Auch dieser Keil mitten durch die Mitte birgt sozialen Sprengstoff. So relativiert sich der DIW-Befund, dass ein sinkender Spitzensteuersatz die Einkommenskluft verschärft habe.

Ein Forscher, zwei Befunde

Einer der Autoren der DIW/Bertelsmann-Studie ist Markus Grabka. In ihm manifestiert sich die Schizophrenie der Ökonomenzunft bei der ideologisch so aufgeladenen Verteilungsfrage. Mit seinem Namen zeichnet er Aussagen wie: „Die soziale Schere öffnet sich immer weiter“ oder „es wächst die Armut am unteren Ende“.

Doch erst Ende Oktober durfte Grabka im DIW-Wochenbericht freudig verkünden: Die deutschen Markteinkommen sind seit 2005 „deutlich gestiegen“, die Ungleichheit nahm ab. Das Armutsrisiko sank im Westen und blieb im Osten konstant. Der Grund: viel weniger Arbeitslose, deutlich mehr Erwerbstätige, auch bei den „guten“, voll sozialversicherungspflichtigen Jobs. Eigentlich keine schlechte Nachricht für eine zu Recht verunsicherte Mittelschicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.12.2012)

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