Steuerflucht nach Belgien: Die Gallier kommen

Steuerflucht nach Belgien Gallier
Steuerflucht nach Belgien Gallier(c) REUTERS (PASCAL ROSSIGNOL)
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Die Steuerflucht von Gérard Depardieu aus Frankreich nach Belgien sorgt für Amüsement, Zorn und wirklichkeitsfremde Hoffnungen: Ortstermin in Néchin, der belgischen Wahlheimat hunderter wohlhabender Franzosen.

In Néchin muss man nicht gewesen sein. An der Ortseinfahrt ein Misthaufen. Auf dem Kirchplatz kein Wirtshaus. An der Ortsausfahrt Roubaix, eine der ärmsten Städte Frankreichs. Dazwischen fünf Kilometer westbelgische Tristesse.

In Néchin muss man aber gewesen sein, wenn man eine Antwort sucht: Was treibt seit Jahren all die Franzosen in die wallonische Einöde? Und was passiert, wenn die stille französische Flucht vor dem Fiskus mit Gérard Depardieu plötzlich ein prominentes Gesicht erhält?

Anfang November hatte Depardieu erklärt, sich zu Beginn des Jahres 2013 hier im westlichsten Zipfel der französischsprachigen Wallonie niederzulassen. Er habe es satt, vom französischen Fiskus nach Lust und Laune gemolken zu werden, erklärte der Schauspieler und Unternehmer. Heuer habe er 85 Prozent seines Einkommens an den Staat abgeliefert: Ein erstaunlicher Steuersatz, der sich aus dem Zusammenspiel von Einkommensteuer und der einjährigen Aussetzung des Höchstsatzes für die Vermögensteuer ergibt.

Der 63-jährige Schauspieler verwehrte sich aber gegen den rasch aufgetauchten Vorwurf, er sei ein Schmarotzer und Nutznießer des Wohlstands seines Vaterlandes. Im Laufe seines Lebens habe er gut 145 Millionen Euro an Steuern gezahlt, und seine Sozialversicherungskarte habe er nie in Anspruch genommen. Als ihm der sozialistische Regierungschef Jean-Marc Ayrault beschied, seine Entscheidung sei „erbärmlich“, feuerte der als Obelix, als Musketier Porthos und als Cyrano de Bergerac für seine Wucht weltbekannte Depardieu per offenem Brief zurück: „Ich verschwinde, weil Sie glauben, dass Erfolg, Kreativität, Talent, im Grunde jede Abweichung sanktioniert werden sollte.“


Mit dem TGV kamen die Franzosen.Rund 2800 Menschen leben in Néchin. Laut Gemeindeamt sind 27 Prozent davon Franzosen. Ihr Zuzug verstärkte sich Mitte der 1990er-Jahre rasant. Allein an der französischen Steuergesetzgebung kann das nicht gelegen haben. Denn die Vermögensteuer hat schon Präsident François Mitterrand nach seinem Wahlsieg 1981 eingeführt. Sein konservativer Rivale Jacques Chirac schaffte sie als Ministerpräsident 1986 zwar ab, doch schon nach Mitterrands Wiederwahl zwei Jahre später feierte sie unter neuem Namen und mit leicht geänderten Regeln Auferstehung.

Erst die Anbindung der nächstgelegenen französischen Städte Roubaix und Lille an das Netz des Hochgeschwindigkeitszuges TGV beschleunigte den Zustrom von Franzosen. Seit 1993 ist man mit dem TGV von Roubaix in eineinhalb Stunden in Paris; von Lille, das nur 20 Kilometer von Néchin entfernt liegt, ist man seit 1994 in 61 Minuten in der Hauptstadt.

Perfekte Voraussetzungen also für all jene Franzosen, die weiterhin in ihrer Heimat geschäftlichen und sonstigen Interessen nachgehen wollen, der steuerlichen Abschöpfung ihres Vermögens aber zu entgehen wünschen. Belgien hat nämlich keine Vermögensteuer, und auch die Schenkung beziehungsweise sonstige Neuordnung großer Vermögen zu Lebzeiten ist hierzulande wesentlich billiger.

Das hat Néchin vor allem für Superreiche als zumindest formalen Wohnsitz reizvoll gemacht. Die Familien Mulliez und Meunier – jener gehört die Supermarktkette Auchan, dieser der Konkurrent Carrefour – haben vor Jahren in und um Néchin Häuser erworben und gebaut. Aber auch weniger Reiche sind gekommen. So haben zum Beispiel gut 300 Ärzte, Pfleger und Verwaltungsbedienstete des Spitals in Lille ihren Wohnsitz in Néchin.


Avenue der Millionäre. Eines der Häuser der Mulliez-Familie, die Nummer 90 auf der Rue de la Reine Astrid, soll Depardieu nun gekauft haben. Überprüfen kann man das nicht, denn natürlich steht auf dem hohen grauen Stahltor kein Name, wie übrigens fast bei keiner der Villen in dieser Landstraße, die zur französischen Grenze führt. Überhaupt ist die Rue de la Reine Astrid, von den Leuten im Ort bloß „Avenue der Millionäre“ genannt, ein befremdlicher Ort. Kein Geschäft gibt es hier bis auf einen Malermeister, kein Wirtshaus, kein Café, nur einen winzigen Greißler. Auf den zwei Kilometern Fußmarsch bis zur Grenze begegnet man höchstens ein paar Jugendlichen, die an der Bushaltestelle im belgischen Dezemberniesel frösteln. Das einzige Wirtshaus auf dem Kirchplatz hat schon vor Jahren zugesperrt: Aus dem sinnigerweise Café Français genannten Etablissement soll eine Wohnhausanlage mit dem klingenden Namen Résidence du Chalet werden. Die Entwürfe lassen weniger an Schlösschen als vielmehr an die unzähligen Bausünden denken, die Belgien von den Ardennen bis zur Schelde verunzieren. Wer mit dem Zuzug der reichen Franzosen die Hoffnung auf eine Wiederbelebung des Ortes als echter Dorfgemeinschaft verbinden sollte, muss ein großer Optimist sein.

Daniel Verschoore ist so einer. Mit der Verschmitztheit, die vielen Belgiern eigen ist, erklärt der Mittvierziger dem Korrespondenten der „Presse am Sonntag“, warum er Depardieu und seine Landsleute willkommen heißt: „Das ist gut für Néchin. Hier sperren wegen der Franzosen Restaurants und Fleischhauer auf. Das schafft Jobs.“

Als Koch mag er das so sehen. Es macht aber auch den Kauf eines eigenen Heimes für junge Ortsansässige unerschwinglich. Schon in den ersten zehn Jahren des Zuzugs der Steuerflüchtigen von nebenan hat sich der Preis für Bauland verzehnfacht. Ein Trend, der anhalten wird, solange die Franzosen kommen.

Das tun sie übrigens nicht in protzigen Luxusautos. Sondern in unverdächtigen kleinen Peugeots, Citroëns, Golfs. Denn gerüchteweise inspizieren französische Steuerfahnder gerne als Ausflügler getarnt die „Avenue der Millionäre“. Und ihre Anrainer.

Steckbrief

Gérard Depardieu
Geboren am 27. Dezember 1948 in Châteauroux, Zentralfrankreich. Nach abgebrochener Druckerlehre begann er Mitte der 1960er-Jahre seine Schauspielkarriere, die von zahlreichen Preisen und einer Oscar-Nominierung („Cyrano de Bergerac“, 1995) gesäumt ist. Er ist Winzer, betreibt Feinkostgeschäfte, Restaurants, eine Filmfirma und ist Yamaha-Lizenzhändler. dapd

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.12.2012)

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