Volkswirtschaft: Wir messen die Welt von gestern

A demonstrator holds up a sign during a protest outside a Coto supermarket in Buenos Aires
A demonstrator holds up a sign during a protest outside a Coto supermarket in Buenos AiresREUTERS
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BIP, Arbeitslosenrate, Inflation: Die wichtigsten wirtschaftlichen Kennzahlen sind immer weniger tauglich, die Realität abzubilden.

Der geldpolitische Jahresbericht der Federal Reserve ist für gewöhnlich kein prickelnder Lesestoff. Man muss bis Seite 49 blättern, um einen kleinen Knüller zu finden. Unter der Überschrift „Forecast Uncertainty“ hält die Fed die Wahrscheinlichkeit fest, dass ihre Prognosen tatsächlich eintreten. Basierend auf den vergangenen Jahren und unter der Annahme, dass nichts Gravierendes die Welt erschüttert, bestehe eine Wahrscheinlichkeit von 70 Prozent, dass das Bruttoinlandsprodukt der USA heuer in einer Spannweite von 2,5 bis 3,5 Prozent wächst. 2015 gilt dieselbe Wahrscheinlichkeit für ein Wachstum zwischen 1,6 und 4,4Prozent. Im Jahr darauf liegt die Bandbreite zwischen 1,2 und 4,8 Prozent. Für die Inflationsrate gilt dieselbe Wahrscheinlichkeit für Spannweiten von 1,7 bis 2,3 Prozent, 1,1 bis 2,9 Prozent und ein bis drei Prozent.

Ein Haufen Zahlen, der eines sagt: Die Federal Reserve ist im Blindflug unterwegs. Mit Müh und Not kann die Notenbank der weltgrößten Volkswirtschaft ungefähr tippen, wie stark das Bruttoinlandsprodukt heuer wachsen dürfte. Doch schon für das kommende Jahr liegen ihre Schätzungen zwischen Spitzenleistung und knapp an der Stagnation auseinander.

Veraltetes Werkzeug. Der Fed und ihren Hundertschaften von schlauen Ökonomen kann man das nicht vorwerfen. Vielmehr ist ihr Werkzeug hoffnungslos veraltet. Bruttoinlandsprodukt, Inflationsrate und Arbeitslosenquote sind amerikanische Erfindungen aus den 1930er- und 1940er-Jahren. Sie halfen, die große Depression und die Folgen der Aufrüstung für den Zweiten Weltkrieg in Zahlen zu fassen. Für das Verständnis der globalisierten, vernetzten und immens arbeitsteiligen Welt taugen sie kaum mehr. „Wir waren richtig gut darin, die Welt der 1950er-Jahre zu messen – aber nicht, die Welt des 21.Jahrhunderts zu messen“, sagt Zachary Karabell, leitender Anlagestratege der Investmentberatungsfirma Envestnet.

Im Buch „The Leading Indicators“ bringt er seine Bedenken auf folgende Quintessenz: BIP, Inflation und Arbeitslosenquote wurden in einer Zeit erfunden, in der grenzüberschreitender Handel kaum eine Rolle spielte und das maschinelle Herstellen von Dingen das Rückgrat der westlichen Welt war. Sie sollten Politikern und Notenbankern ganz spezielle Antworten auf ganz spezielle Fragen liefern – und nicht die Antwort auf den Zustand der gesamten Wirtschaft in eine Zahl pressen. Doch je unberechenbarer unser Wirtschaften und Leben wird, je mehr Arbeitsschritte auf viele Hersteller und mehrere Kontinente verteilt sind, kurz, je weniger man Ursache und Wirkung wirtschaftlicher Vorgänge festnageln kann, desto verzweifelter klammern sich die Menschen an diese obsoleten Zahlen.

Das erste Problem des BIPs ist, dass es zum Beispiel nur geldwerte Vorgänge, nicht aber Hausarbeit und freiwillige Tätigkeit erfasst. Wer sich ein gesundes Mittagessen zu Hause selbst zubereitet, trägt (mit Ausnahme des Preises für die Zutaten) nichts zum BIP bei. Er spart aber Geld und ernährt sich besser als jemand, der mittags in der Kantine eine Fertigpizza verschlingt (und somit das BIP erhöht). Das zweite Problem des BIPs lässt sich am iPhone von Apple veranschaulichen. Sein Wert liegt im Know-how der Designer und Softwareentwickler in Kalifornien, nicht im fernöstlichen Zusammenbauen. Nur zehn Dollar pro iPhone bleiben in Form von Löhnen in China – bei einem Einzelhandelspreis von mehreren hundert Dollar. Wenn das iPhone von China in die USA exportiert wird, landet es mit diesem hohen Listenpreis in der Handelsstatistik – und trägt zum Handelsdefizit gegenüber China bei.

Und diese Entwicklung wird immer ausgeprägter. „Wir leben in einer Welt, in der im Grunde genommen niemand mehr etwas herstellt“, sagte Karabell neulich bei der Vorstellung seines Buchs in Washington. Damit spielt er auf den Umstand an, dass sich so gut wie alle Gegenstände unseres täglichen Lebens aus Einzelteilen von Herstellern in verschiedenen Ländern zusammensetzen. Welchen Anteil haben all diese Zulieferer am fertigen Produkt? Allein beim iPhone sind es nachweislich mindestens fünf Unternehmen, die jene Bestandteile liefern, welche die Arbeiter des Apple-Auftragsnehmers Foxconn in China zusammenbasteln. Und: Ist die Wertschöpfung des in Taiwan eingetragenen Unternehmens Foxconn überhaupt der chinesischen Volkswirtschaft gutzuschreiben?


Eine Zahl für jeden Zweck. Die Inflationsrate wiederum ist eine Richtschnur für die durchschnittliche Entwicklung der Preise. Sie taugt aber nicht, um individuelle Lebenskosten zu erfassen – und das rührt den Verdacht, die Regierungen würden die Zahlen schönen, um reale Einkommensverluste zu verschleiern.

Unbefriedigend ist auch die Arbeitslosenrate. Ein junger Akademiker in Wien muss sich weniger Sorgen um seinen Job machen als eine ungelernte Hilfsarbeiterin in Osttirol. Bei der Entwicklung von arbeitsmarktpolitischen Lösungen hilft die österreichweite Arbeitslosenrate folglich nicht.

Karabell rät daher zu maßgeschneiderten Kennzahlen. Viele Unternehmen verwenden diese ohnehin; für sie zählen konkrete Verhältnisse in eng definierte Märkten, nicht Durchschnittswerte. Sonst gelte: Je mehr eine Zahl zu erfassen angibt, desto misstrauischer sollte man sie bewerten.

Wunsch und Wahrheit

Bruttoinlandsprodukt, Inflationsrate, Arbeitslosenquotesind amerikanische Erfindungen aus den 1930er- und 1940er-Jahren. Für das Verständnis der vernetzten, globalisierten und enorm arbeitsteiligen Welt taugen sie kaum mehr.

Auch die Prognosen der Federal Reserve sind daher nur mit 70-prozentiger Wahrscheinlichkeit realistisch.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.04.2014)

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