Russland: Neuer Schwung und alte Probleme

Saint Petersburg
Saint Petersburg (c) Bloomberg (Andrey Rudakov)
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Der oft vorhergesagte dramatische Kollaps des größten Landes der Welt ist ausgeblieben. Aber die Ersparnisse aus den „fetten Jahren“ halten nicht ewig: Reformen müssen her.

Moskau/St. Petersburg. Wladimir Putin ist sich sicher, wo Russland steht: auf eigenen Beinen nämlich. Das war die Message des russischen Präsidenten bei seiner Rede am Freitag beim Wirtschaftsforum in Petersburg. Das Schlimmste sei vorbei, die Wirtschaft stabilisiert, jetzt sollen die Unternehmen entlastet werden – damit der Aufschwung kommt, so Putin.

Dass Ex-Finanzminister Alexej Kudrin sein Land nur einen Tag zuvor noch im „Auge des Orkans“ sah, also mittendrin in der Krise, ignorierte der Präsident am Freitag einfach. Ja, es gäbe noch viele Probleme. Aber man habe das Schlimmste verhindert, so Putin: „Ende vergangenen Jahres haben viele Leute eine schwere Krise in Russland prophezeit – und die ist nicht eingetreten.“

„Die Probleme sind nicht neu“

In dem Punkt hat Putin freilich recht. Der dramatische Kollaps des Landes, der nach Ukraine-Krise, Sanktionen und Ölpreisverfall vielerorts vorhergesagt wurde, der ist ausgeblieben. Das bestätigen auch die unverdächtigsten Experten: „Der Kollaps war nie eine realistische Erwartung“, sagt Birgit Hansl.

Die gebürtige Deutsche ist seit Mai 2013 Chefökonomin der Weltbank in und für Russland. Sie hat die Krise im größten Land der Welt hautnah miterlebt. Eine Krise, die auch ohne Ukraine-Konflikt, Sanktionen und Ölpreisverfall gekommen wäre. „Die Wachstumserwartungen bleiben für heuer und 2016 negativ. Aber Russland hatte schon 2012 schlechtes Wachstum – also vor den geopolitischen Schocks“, so Hansl beim Gespräch mit der „Presse“ am Rande des vergangene Woche von der Wirtschaftskammer in Moskau veranstalteten Forums Austria Connect GUS 2.0.

Auch die Investitionen stockten schon vor der Zuspitzung der Lage rund um die Ukraine. „Die Gründe dafür sind strukturelle Probleme – und die sind nicht so neu“, sagt Hansl. „Der private Sektor hat nicht viel Raum, sich zu entwickeln – und die Wirtschaft zu tragen. Ein großer Teil der Wirtschaft bleibt in der öffentlichen Hand. In diesem Sinne haben wir hier keine normale Marktwirtschaft, sondern eher Staatskapitalismus.“ Wie groß der staatliche Anteil an der Wirtschaft wirklich ist, weiß niemand genau. Mindestens ein Drittel, so die Weltbank – wahrscheinlich aber mehr.

Freilich: Privatisierungen stehen im Augenblick ganz sicher nicht auf der Agenda des Kreml. Aber Reformen seien trotzdem nötig. „Man kann die Bedingungen trotzdem verbessern“, so Hansel. „Für mich ist es auch gar nicht wichtig, ob ein Unternehmen staatlich oder privat ist – sondern ob es effizient geführt wird. Strom, Gas und Wasser wird in vielen Ländern von der öffentlichen Hand übernommen – aber anderswo sind diese staatlichen Unternehmen eben konkurrenzfähig.“

Immerhin: Käse

Jetzt gehe es darum, die notwendigen strukturellen Reformen anzugehen, dann könne auch das Wachstum zurückkehren. Heißt: Rechtssicherheit und Chancengleichheit sicherstellen, Korruption bekämpfen und vor allem, die Abhängigkeit von Öl und anderen Rohstoffen reduzieren. Dieser Punkt sei doppelt wichtig. Bisher konnte der Kreml noch mit Milliarden aus dem Reservefonds nachhelfen, in dem die Ölgewinne aus den „guten Jahren“ gespeichert waren.

Aber auch wenn sich Russland mehr als der Westen an die keynesianische Doktrin des Sparens in guten Zeiten hält – nächstes Jahr wird der Reservefonds leer sein. Denn nach vielen Überschuss-Jahren wird Russland heuer ein Defizit von 3,7 Prozent einfahren, das finanziert werden will. „So ist für Russland tatsächlich eine neue Ära angebrochen“, sagt Hansl. „In den letzten Jahren ist der Erfolg auch der Bevölkerung zugute gekommen. Russland hat eine beispiellose Reduktion der Armut gesehen. Kein anderes Schwellenland ist dem nahe gekommen. Aber jetzt hat sich der soziale Vertrag geändert.“

Der Verfall des Ölpreises hat den Rubel mitgerissen. Nach Monaten des Kampfes hat die Nationalbank aufgegeben – sie lässt den Rubel jetzt frei schwanken. Das hat die Inflation im Land zwar in die Höhe getrieben. „Aber es sieht schon so aus, als wäre der schwache Rubel jetzt ein Vorteil“, sagt Christopher Weafer, Unternehmensberater in Moskau und Russland-Experte zur „Presse“.

Die Zentralbank sei wieder dabei, die Währungsreserven aufzustocken und werde jetzt wohl langfristig auf eine Politik des schwachen Rubels setzen, um den Export zu stützen. „Das wird es dann auch der Regierung erleichtern, Defizit und Budget in den Griff zu bekommen“, so Weafer.

Und mancherorts würden die Sanktionen sogar helfen. „Klar, die Gegensanktionen Russlands im Nahrungssektor waren zwar ein plumper Weg, die eigene Industrie anzuspornen. Aber die Message war nicht plump: Russland hat Nahrung zur Schlüsselindustrie erklärt – die auch für westliches Kapital offen ist.“ Das erklärt dann auch, warum Putin am Freitag extra betonte, dass die Käseproduktion in Russland zuletzt gestiegen ist.

AUF EINEN BLICK

Russland ist genau genommen ein keynesianisches Musterland: Das aktuelle Defizit von fast vier Prozent wird mit Rücklagen aus den „guten Zeiten“ finanziert. Aber diese Rücklagen reichen nicht für ein weiteres Krisenjahr. Es gelte jetzt, strukturelle Reformen anzugehen, so die Weltbank. Was trocken klingt, hat einen konkreten Kern: Die staatslastige Wirtschaftsstruktur, Korruption und Bürokratie stehen einer dynamischen Entwicklung im Weg. Und auch wenn die Russen in den vergangenen zehn Jahren einen beeindruckenden Aufstieg erlebt hätten – der „soziale Vertrag“ zwischen Volk und Kreml müsse sich jetzt ändern.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.06.2015)

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