Bolivien: Der Aufstieg der Indigenen

Die Architektur von Freddy Mamani prägt El Alto.
Die Architektur von Freddy Mamani prägt El Alto.(c) REUTERS (DAVID MERCADO)
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Lange galt Boliviens zweitgrößte Stadt El Alto als hässlicher Backsteinmoloch. Doch ein neuer Architekturstil revolutioniert das Stadtbild. Er steht für eine aufstrebende Schicht indigener Einwohner, die von Boliviens Wirtschaftswachstum profitieren.

Als er ein kleiner Junge war, hat Freddy Mamani der Anblick seiner Heimatstadt oft gelangweilt. „Diesen Grundton aus grau, rot und braun fand ich immer so trist“, sagt der 48-Jährige, als er durch eine staubige Hauptstraße seines Viertels marschiert, auf der außer Beton, Asphalt und Backstein nicht viel zu sehen ist. Der Bauherr gibt eine Tour durch seine seltsame Heimat, die zugleich zu seinem Spielplatz geworden ist. „Bäume haben wir hier ja auch keine“, sagt Mamani achselzuckend. So galt das industrielle El Alto, die zweitgrößte Stadt Boliviens, bisher als landesweiter Inbegriff von Hässlichkeit.

Aber als Freddy Mamani ein paar Häuserblöcke zurückgelegt hat, sticht aus dem erdfarbenen Einerlei ein greller, mehrstöckiger Neubau mit einer verspielten Glaswand heraus. „Hab' ich gebaut“, sagt er beiläufig, ohne stehen zu bleiben. Einen Block später ragt eine ähnliche Villa, genauso prunkvoll, edler als all die Standardhäuser aus Backstein, hervor. Knallgelbe oder -blaue Fassaden, gestützt von quietschgrünen Säulen, darüber verspielte Fensterwände in schwungvollen Mustern. Solche Bauten schießen in El Alto seit Jahren wie Pilze aus dem Boden und bringen das alte Stadtbild durcheinander. Mehr als 200 bunte Minischlösser stehen schon, ähnlich viele sind in Planung.

Schrille Architektur ist hier in Mode gekommen. Dafür verantwortlich ist Freddy Mamani, dieser gedrungene Mann mit forschem Gang, der mit seinen durchgetretenen Schuhen, der staubigen Jeans und der verwaschenen Bomberjacke eher wie ein Bauarbeiter anmutet. Mamani ist wohl der einflussreichste Architekt und Bauherr und einer der bekanntesten Unternehmer seines Landes. In Bolivien hat er mit seiner verspielten Bauart eine architektonische Revolution losgetreten.

Neue Identität. Akademiker haben sie schon auf „neoandinische Architektur“ getauft, ausgezeichnet durch Anspielungen auf die Traditionen der Aymara, der größten Volksgruppe Boliviens. Die Farben ähneln denen auf Ponchos und anderen Trachten aus dem Altiplano, die Formen erinnern oft an Schmetterlinge, Schlangen oder Kondore, die in der Mythologie der Aymara eine zentrale Rolle spielen. Aber obwohl Mamani, der sein erstes derartiges Gebäude um die Jahrtausendwende entwarf, auf Tradition schwört: Der Stil ist völlig neu.

„Ich will meiner Stadt eine Identität geben“, ruft der Architekt stolz durch den Autolärm. „Wir Aymara sind der Natur stark verbunden. Wir wollen sie auch in unseren Häusern haben.“ Dem spanischen Kolonialstil, den man sonst aus Lateinamerika kennt, macht Mamani genauso eine Absage wie den fassadenlosen Backsteinbauten, die El Alto bisher dominieren. „Meine Architektur soll die Aymara und Boliviens Geschichte zum Strahlen bringen.“

Dass dieser Stil gerade in El Alto Erfolg hat, ist kein Zufall. Wie keine andere Stadt Boliviens steht sie für das Aufstreben der indigenen Bevölkerung, die in den letzten Jahrzehnten in immer größeren Zahlen ihr Glück in den Städten versuchte. Erst zogen Landflüchtige in die auf 3600 Metern Höhe gelegene Regierungsstadt La Paz. Da diese aber in einem Tal liegt, platzte sie irgendwann aus allen Nähten. An den Hängen und auf einem Hochplateau auf 4000 Metern breitete sich El Alto aus.

Das Bevölkerungswachstum ist bis heute rasant. Den Status einer Stadt erreichte El Alto 1985, vor drei Jahren wurden 840.000 Einwohner gezählt, mittlerweile ist El Alto größer als das im Kolonialstil stolzierende La Paz. Man vermutet schon eine Million Menschen. „Wir sind eine Händlerstadt“, sagt Freddy Mamani. „Die meisten sind ohne viel Geld gekommen. Deshalb wurde auch nie auf Architektur oder Stadtplanung geachtet.“ Und Backstein war immer die billigste Bauart.

Mittlerweile wird El Alto aber auch „der trockene Hafen Boliviens“ genannt, weil es zum Hauptumschlagplatz für Im- und Exporte geworden ist. Seit der Sozialist Evo Morales 2005 zu Boliviens erstem indigenen Präsidenten gewählt wurde, boomt die Wirtschaft allgemein, der Anteil der extremen Armut konnte um ein Drittel gesenkt werden. Gerade unter den Aymara, zu denen auch Morales und Mamani gehören, ist eine Schicht neuer Wohlhabender entstanden.

Aufschwung unter Morales. Die Wirtschaftsleistung pro Kopf hat sich seit dem Amtsantritt Morales‘ auf 3000 US-Dollar im Jahr mehr als verdreifacht. Laut UNO haben zwischen 2006 und 2012 rund 1,2 Millionen Bolivianer die Mittelklasse erreicht. Überall im Land werden Shoppingcenter gebaut, der Binnenkonsum zieht an. Mit etwas Übertreibung prahlte Finanzminister Luis Arce Catacora deshalb: „In Bolivien kann jeder reich werden, die Ökonomie von heute ist für jeden da.“ Viele dieser Aufsteiger sind Indigene.

Und Freddy Mamanis Häuser sind zum Statussymbol dieser Klasse geworden. Im Schnitt zahlen seine Kunden 300.000 US-Dollar nur für Planung und Bau, Materialkosten kommen dazu. „Viele wollen Marmor, Keramik oder edle Steine. Dann wird es natürlich teurer“, sagt Mamani grinsend. „Das ist typisch für uns Aymara. Wenn wir Geld haben, zeigen wir das auch gern.“

An der Hauptstraße stoppt Freddy Mamani einen heranrauschenden Minibus, drückt dem Fahrer ein paar Münzen in die Hand, vier Blocks später steigt er wieder aus. Da überragt sein nächstes Werk eine Häuserwand aus Backstein. Diese sechsstöckige, grellorange Villa sei ein typisches seiner Häuser: im Erdgeschoß eine Ladenzeile, auf dem Dach liegt ein kleines Fußballfeld. Den zweiten Stock belegt ein zweistöckiger Tanzsaal mit neun Kronleuchtern, unzähligen Tischen, bunter Wandmalerei und einer Bar mit Spiegelglas. Darüber, unter dem Fußballplatz, wohnt die Inhaberfamilie. „Dieser Kunde handelt mit Keramik, glaube ich“, sagt Mamani. „Der ganze Auftrag war knapp zwei Millionen Dollar wert.“

In ganz Bolivien ist Freddy Mamani durch seine Bauart zu einer Berühmtheit geworden. Aber er hat sich nicht nur Freunde gemacht. Anderswo im Land, wo auch Präsident Evo Morales viele Gegner hat, gilt die Architektur als geschmackloser Protz für neue Reiche. Ein Symbol „einer neuen Gruppe Mächtiger“ wurde sie in der führenden Tageszeitung „El Deber“ genannt, die in der von Mestizen geprägten Metropole Santa Cruz sitzt. Auch der Begriff „arquitectura chola“ fällt häufig, was auf etwas abschätzige Art so viel heißt wie: „Baustil der Zugezogenen.“

Freddy Mamani verletzen solche Bezeichnungen. Er findet sein El Alto heute viel bunter und schöner als zu seiner Kindheit. Nachdem er die Prunkvilla mit den Metalllöwen an der Tür verlassen hat, geht er im Abenddunkel zu seinem Büro. Er macht wieder zügige Schritte und blickt zum ersten Mal grimmig. „Mich nervt es“, sagt er, „dass viele Leute den Aymara die Fähigkeit zu guter Architektur absprechen.“ Tatsächlich sind in La Paz sowie in Santa Cruz oft verächtliche Bemerkungen über Mamanis Stil zu hören.

Erste Nachahmer. Immerhin hat ihn sein Kleinbetrieb Constec, der vor allem Werksarbeiter beschäftigt, zu einem wohlhabenden Mann gemacht. Hinter einer Mauer und einem staubigen Hof, in dem vier Pick-ups stehen, lädt eine breite Glastür in sein Büro ein. Drinnen sind die Wände so bunt und knallig wie die Fassaden seiner Häuser auf El Altos Straßen. In einem Regal stehen Bücher mit Titeln wie: „Geld machen ohne Geld“ oder „Die Millionärsmentalität“.
„In zwanzig Jahren wird die Hälfte der Häuser hier in meinem Stil gebaut sein“, sagt Mamani. Und vielleicht schlägt das Neoandine bald auch anderswo Wurzeln. Trotz aller fachlichen Kritik gibt Mamani regelmäßig Kurse an Universitäten, sein Stil wird kopiert. Sogar aus Santa Cruz, Boliviens Hochburg der Mestizen, wo man den Aufstieg der Indigenen oft mit Argwohn beobachtet, liegen schon Anfragen vor.

Zahlen

200 bunte Minischlösser hat Freddy Mamani schon gebaut. Ähnlich viele sind in Planung.


300.000 US-Dollar bezahlen seine Kunden im Schnitt nur für Planung und Bau. Die Materialkosten kommen noch dazu.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.03.2016)

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