Ex-SPD-Rebell: "Sozial ist, was Arbeit schafft - Punkt!"

Wolfgang Clement.
Wolfgang Clement.(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Wolfgang Clement war der große Umsetzer der Agenda 2010. Der verstoßene SPD-Rebell zieht eine Bilanz der Reformen und fordert mehr Geld für Kindergärten statt für Pensionen.

Wien. Mut kann die Macht kosten. „Wir wussten, dass wir die Regierungsmehrheit riskieren“, erinnert sich Wolfgang Clement eher stolz als bitter. Der „Superminister“ für Arbeit und Wirtschaft hatte den schwersten Job im Kabinett Schröder: Er musste in drei Jahren die Reformen der Agenda 2010 umsetzen. Die Folgen des Kraftakts: Seit 2005 ist Clement nicht mehr Minister, seit 2008 nicht mehr SPD-Mitglied. Die Sozialdemokratie ist auf eine 20-Prozent-Partei geschrumpft. Nur Deutschland selbst steht bärenstark da: Noch nie gab es so viele Beschäftigte, nirgends in der EU ist die Arbeitslosenquote niedriger, auch unter Jugendlichen. Im Rest Europas gelten deutsche Reformen als leuchtendes Vorbild.

Weshalb auch die Wirtschaftskammer Clement nach Wien eingeladen hat, um zu lernen. Der Ex-Politiker zog Bilanz. „Sozial ist, was Arbeitsplätze schafft – Punkt!“, bleibt sein Credo. Damals hieß das: runter von fünf Millionen Arbeitslosen, mit allen Mitteln. Zum Beispiel: Nur mehr ein Jahr Arbeitslosenhilfe im Versicherungssystem, dann Hartz IV, mit rund 800 Euro bewusst „eng geschnitten“. Jeder legale Job ist anzunehmen, sonst gibt es weniger Geld. Das „Gefühl totaler Sicherheit“ wich dem Druck. Dazu kam aber auch frischer Wind in der Arbeitsagentur: der Arbeitslose als Kunde statt als Bittsteller vor der Obrigkeit. Und Strafen für Firmen, die keine Lehrlinge ausbilden.

Kündigungsschutz blieb hoch

Seltsam: Ausgerechnet beim Kündigungsschutz, von dessen Lockerung sich Franzosen und Südeuropäer so viel erhoffen, passierte in Deutschland wenig (nur bei „ganz kleinen Firmen“). Noch heute ist er deutlich rigider als etwa in Österreich. Stattdessen forcierten die Reformer neue Formen der Beschäftigung: Minijobs, Teilzeit, Leiharbeit, Werkverträge. Dafür hagelt es bis heute Kritik, die Clement zurückweist. Die Zeitarbeit etwa hält er für das „beste Instrument, um schwer Vermittelbare voll einzugliedern“ – 60 Prozent von ihnen schaffen es. Auch seien diese Jobs, die nur zwei Prozent Anteil ausmachen, sozialversicherungspflichtig. Am meisten gefruchtet aber habe die lange Stagnation der Löhne, die Deutschland so wettbewerbsfähig machte. Kein Verdienst der Politiker, sondern von Tarifpartnern, die den Konsens suchen – anders als in Frankreich, wo „Arbeit gegen Kapital steht, wie in den Zeiten von Marx“. Deshalb sei es so wichtig, die Tariffreiheit „vor der Politik zu schützen“ – ein Prinzip, das „durch den Mindestlohn verletzt wurde“.

Der Rest der Reform: kein Befähigungsnachweis mehr für ein Drittel der Gewerke. Länger arbeiten: 67 statt 65 Jahre. Dazu Steuersenkungen für Unternehmen und Spitzenverdiener, die das Aufkommen sogar erhöhten. War das nicht alles sehr neoliberal? „Das ist mir piepe.“ Seit just zehn Jahren gehe doch die Schere bei den Einkommen in Deutschland nicht mehr weiter auf. Durch weniger Arbeitslose und zuletzt, seit man es sich wieder leisten kann, auch durch kräftig steigende Reallöhne. Das hätten doch die Deutschen gut hingekriegt. Weshalb man sie auch nicht „als die Irren darstellen sollte, die immer nur sparen wollen“.

Warum folgen die Regierungen in Europas Süden dann nur so halbherzig diesem Pfad? Daran sei die EZB schuld. Die Zentralbank schaffe „mehr Spielraum, als wir je für möglich gehalten hätten“. Der Schutz sei „zu stark, er dauert zu lang, man kann sich zu sehr darauf verlassen“. So fügt sich in Clements Weltbild das Kleine ins Große: Was für Arbeitslose zu üppige Sozialhilfe ist, ist für Regierungen zu großzügige Geldpolitik – beides schmälert die Leistungsanreize.

Wo bleibt da noch der Sozialdemokrat, der Clement auch ohne Parteibuch bleiben wollte? (Tatsächlich kokettiert er stark mit der FDP). Manche Exzesse bei den Gehältern von Managern „verachte“ auch er, weil da etwas „aus den Fugen geraten ist“. Aber im Grunde „toben wir da eben unseren Neid aus“. Entscheidend sei das nicht.

Chancen für Bildungsferne

Was dann? „Allen die Chance geben, sich zu qualifizieren“, vor allem auch den Bildungsfernen. Schon bei den Kindern zwischen drei und sechs, die am meisten aufnehmen können, später durch Ganztagsschulen und kleine Klassen. Dass Bildung Sache der Familie sei, wie die CSU meint, mag „in bayerischen Dörfern“ funktionieren, für die Problemviertel in Großstädten aber sei es „völlig illusionär“. 130 Mrd. Euro kosten die Wahlgeschenke der Großen Koalition an die Pensionisten bis 2030. „Hätten wir das in die Schulen gesteckt, wäre das Problem erledigt.“

Das Sozialsystem hingegen „repariert nur noch, wenn das Kind schon im Brunnen liegt“. Ein Sozialdemokrat an der Spitze müsse heute den Mut haben, „der erste Bildungspolitiker des Landes zu sein“ – statt „die Rettung vor dem Vertrauensverlust in alten Programmen“ und einer Rückabwicklung von Reformen zu suchen.

ZUR PERSON

Wolfgang Clement (75) war von 1998 bis 2002 Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und danach bis 2005 deutscher „Superminister“ für Arbeit und Wirtschaft. 2008 trat er aus der SPD aus. Heute leitet er das Kuratorium der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft und sitzt in einer Reihe von Aufsichtsräten. [ Fabry ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.06.2016)

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