Das Wunder am Fuße des wilden Kaukasus

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GEORGIA-GUINNESS-OFFBEATAPA/AFP/VANO SHLAMOV
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Vor Kurzem noch war Georgien die Hochburg der Mafia und Korruption. Beides wurde radikal ausgerottet, das Land zum Leuchtturm des Liberalismus.

Das georgische Wunder beginnt mitten in der Hauptstadt Tiflis unter den „Pilzen“. So nennt man im Volksmund die vom italienischen Architekten Massimiliano Fuksas entworfene Dachkonstruktion der Public Service Hall. Geschwungen wie Pilzkappen greift sie in den Raum und bietet Schatten, wenn die Temperaturen wieder auf 40 Grad steigen. Im Inneren tummeln sich schneidige junge Frauen in schnittigen Kostümen und Damenkrawatten. Wer auf die Erledigung seiner Bürgeranliegen etwas warten muss, bekommt auf Wunsch Kaffee, kleine Snacks oder große Menüs serviert.

Es ist so gar nicht das Bild, das man gemeinhin mit dem Kaukasus verbindet. Krieg und Korruption, Mafia und Steinzeitmentalität, Bürokratiesumpf und Patriarchat prägen die Vorstellung vom Landstrich mit den mächtigen Fünftausendern hinter dem Schwarzen Meer. Das kommt nicht von ungefähr, wie auch Georgiens Geschichte zeigt.

In der Tat hat eine schikanöse Bürokratie, wie sie alle Ex-Sowjetstaaten kennzeichnete, auch Georgien lang im Würgegriff gehalten. Eine katastrophale Korruption war die Folge. Schlimmer noch: Georgien galt als Hochburg der Mafia, die im Inland den Ton angab und von dort aus ihr internationales Spinnennetz flocht. Einer der spektakulärsten Höhepunkte ereignete sich am 11. Juli 1996: Mitten in der Wiener Innenstadt wurde der georgische Pate David Sanikidze von einem rivalisierenden Clan erschossen. „Hat man in Georgien noch vor zehn Jahren gefragt, was junge Männer werden wollen, so nannten sie kriminelle Autorität an erster Stelle“, erzählt Lewan Nebieridze, Wirtschaftsprofessor und Speditionsunternehmer in Tiflis, im Gespräch: „Und Mädchen sahen sich gern als künftige Gangsterbraut.“

Heute ist Korruption zum absoluten Fremdwort geworden. Die Mafia hat das Land verlassen oder sitzt im Gefängnis. Der Staat hat eine gesellschafts- und wirtschaftsliberale Gesetzgebung geschaffen und sieht sich als Dienstleister am Bürger. Im Tifliser „Pilz“-Gebäude, dem Symbol der Systemreform, und den anderen Servicezentren im Land sind alle Behörden gebündelt und zur blitzartigen Erledigung der Bürgeranliegen angewiesen. Was für einfache Menschen gilt, gilt für Unternehmer umso mehr. Im Wissen, dass nur sie Arbeitsplätze schaffen, werden sie vom Staat besonders umgarnt. Wer eine Firma gründen will, muss dafür lediglich 15 Minuten beim One-Stop-Window einplanen. Nach drei Stunden wird ihm die Eintragung ins Firmenregister per SMS bestätigt und automatisch ein Bankkonto eröffnet. „Georgien hat sich gedreht, das Bewusstsein ist heute anders“, so Nebieridze: „Die Leute wissen, dass das meiste von ihnen selbst abhängt. Es ist wie im liberalen Estland: Der Staat hat sich völlig zurückgenommen.“

Die wundersame Verwandlung begann Ende 2003 mit der sogenannten Rosenrevolution, die das autoritäre Regime hinwegfegte und den ungestümen Jungpolitiker Micheil Saakaschwili nach oben spülte. Saakaschwili packte die Gelegenheit beim Schopf und vollzog einen radikalen Systemwechsel, indem er die staatlichen Institutionen stärkte und so einen Rückfall ins alte System unmöglich machte. Gewiss, seine Methode war brachial und er selbst nicht frei von autoritären Zügen, weshalb er 2013 auch abgewählt wurde. Aber sie war vom Prinzip geleitet, dass sich eine Mehrheit nicht von einer Minderheit terrorisieren lassen dürfe.

Nulltoleranz. Mit einem Handstreich entließ er die gesamte korrupte Polizei, schrieb ein neues Einstellungsverfahren und rief eine Politik der Nulltoleranz bei Korruption aus. Jede Amtshandlung wird heute auf Video aufgezeichnet, schon auf Bestechungsversuche stehen jahrelange Haftstrafen. Der neue Bericht der International Finance Corporation (Teil der Weltbank-Gruppe) gibt das Korruptionsniveau in Georgien mit beinahe null Prozent an.

Auch gegenüber der Mafia verkündete Saakaschwili null Toleranz, manch ein Mitglied wurde einfach erschossen, andere in eine ausweglose Lage versetzt. Das geht so: Beim Verhör wird ein „Dieb im Gesetz“, so der Titel für die höchste Autorität im Clan, über seine Zugehörigkeit zur Mafia befragt: Leugnet er, ist er im Clan degradiert bzw. zum Abschuss freigegeben; bejaht er, geht er für Jahre hinter Gitter, ehe er wieder befragt wird. Das alles hat die Mafiaclans nicht ganz ausgerottet, aber sie haben das Land Richtung Russland, Ukraine oder auch Richtung Westen verlassen. Auf Georgiens Straßen ist es seither sicher wie in Berlin. Der letzte Autodiebstahl liegt Jahre zurück.

Der Mann, der wie kein zweiter wusste, was Reformwillen heißt, ist 2014 an Herzversagen gestorben. Sein Millionenvermögen hatte Kacha Bendukidze in Russland gemacht, ehe er als Reformminister nach Georgien gerufen wurde. „Man kann alles verkaufen, nur nicht sein Gewissen“, hat er vor seinem Tod im Gespräch mit der „Presse“ noch gesagt. Tatsächlich ließ er Hunderte Betriebe privatisieren und eine radikale Deregulierung umsetzen. Aus 21 Unternehmenssteuern wurden sechs, die 900 Arten von Gewerbeberechtigungen wurden eliminiert. Der Erfolg stellte sich umgehend ein. Das Land schoss im Geschäftsklimaindex der Weltbank, Doing Business, von Platz 137 auf Platz 18 hoch. Aktuell hält es immerhin noch bei Platz 24. Vor allem die Leichtigkeit bei der Firmengründung in den Public Service Halls bringt Spitzenbewertungen.

Die Suche nach dem georgischen Wunder führt uns in die Stadt Rustavi, 30 Kilometer südlich von Tiflis. Kühe und Schafe säumen hier wie überall im Land die Straße und legen sich auch schon einmal auf einen der Fahrstreifen. Schnell ist ohnehin kein Auto unterwegs, denn noch fehlt Geld für die Infrastruktur. Aus Schlaglöchern sind stellenweise Schlaggruben geworden.

Vor einigen Jahren hat man den berühmten Gebrauchtwagenmarkt von Tiflis nach Rustavi verlegt. Nach wie vor ist es Europas größter seiner Art. Was im Westen an Autos nicht mehr gebraucht wird, landet vielfach hier und wird in die umliegenden Länder weiterverkauft. Vor der Einfahrt auf das Gelände werden die Autos auf etwaigen Diebstahl gecheckt. In den besten Zeiten zu Beginn der Reformen habe die Zollabfertigung und Registrierung drei Minuten gedauert, erzählt Gela, einer der Händler. Inzwischen sei nicht nur der Schlendrian etwas zurückgekehrt, auch der Verkauf gestalte sich seit 2014 zäh, so der 46-Jährige. „Früher wechselten hier 5000 Autos pro Woche den Besitzer, derzeit sind es weniger als die Hälfte.“Das liegt vor allem am Ölpreisverfall, der den Ölstaat Aserbaidschan schwer trifft. Die Azeris waren zuvor die finanzstärksten Kunden. Der Reexport der importierten Autos, immerhin Georgiens zweitstärkster Exportposten nach den Kupfererzen, ist im ersten Halbjahr um ein Viertel eingebrochen. In der Tat sind die BIP-Traumwachstumsraten von zehn Prozent aus der Zeit vor 2008 vorbei. Und nur, weil das Land zu einer Demokratie und einer liberalen Marktwirtschaft umgeschwenkt hat, heißt das noch nicht, dass die Wirtschaft automatisch rund laufen muss. Immerhin scheint nun die Durststrecke vorbei. Im Vorjahr wurden 2,8 Prozent Wachstum erzielt.

Krieg. Es war der von beiden Seiten verursachte Krieg mit Russland 2008, der das Land um Jahre zurückgeworfen hat. Dies auch, weil der starke Handelspartner Russland Importembargen erlassen hatte und so manchen Exporteur in Georgien in den Ruin trieb. Wer überleben wollte, musste neue Märkte suchen und seine Produkte veredeln.

Alex Shaloshvili weiß ein Lied davon zu singen. Mitten in der ostgeorgischen Weinstraße von Kachetien betreibt er sein Gut und produziert jährlich etwa 150.000 Flaschen. „An den Geschmack unserer autochthonen Reben und unserer traditionellen Zubereitung muss sich der westliche Gaumen natürlich gewöhnen. Aber kürzlich habe ich ein erstes Dankschreiben von unseren Abnehmern in Deutschland erhalten“, erzählt er stolz.

Nichts hat eine solche Tradition in Georgien wie die Weinproduktion. Auf 5000 Jahre wird sie geschätzt. Selbst den Mönchen in den dortigen Höhlenklöstern wurde, Schriften aus dem Mittelalter zufolge, eine tägliche Weinration von eineinhalb Litern zugestanden. Die Technik, den Jungwein in amphorenartigen Tongefäßen (Quevri) in der Erde reifen zu lassen, wurde 2013 von der Unesco in die Liste der Immateriellen Weltkulturerbe aufgenommen.

Der Weinexport in nunmehr 40 Länder nahm heuer im ersten Halbjahr um 44 Prozent auf 19,8 Mio. Flaschen zu. Und Russland nimmt übrigens nicht nur bei Weinen auf der Exportliste wieder einen der obersten Ränge ein. Nimmt man nicht die Einzelländer, so führt die EU, die ein Viertel der georgischen Waren importiert.

Und deren Bürger aufgrund der guten Sicherheitslage auch als Touristen Georgien zunehmend entdecken. Knapp sechs Millionen Besucher kommen jährlich und tragen etwa zwölf Prozent zum BIP bei. Darunter wohlgemerkt immer mehr Russen, weil Georgien die gegenseitige Visumspflicht mit dem einstigen Kriegsgegner einseitig aufgehoben hat. „Wir sind nicht nachtragend“, sagt Weinbauer Shaloshvili: „Wir freuen uns über jeden Gast.“

Zahlen

3,7Millionen Einwohner zählt der Ex-Sowjetstaat Georgien.

69,7tausend Quadratkilometer Fläche umfasst das Land inklusive der beiden von Russland besetzten Gebiete Abchasien und Südossetien. Ohne diese Gebiete sind es 57.215 Quadratkilometer.

14Mrd. Dollar (12,4 Mrd. Euro) betrug das Bruttoinlandsprodukt zu laufenden Preisen im Vorjahr.

12Prozent machte die Arbeitslosenrate im Vorjahr aus.

9,9Milliarden Dollar wurden 2015 im georgischen Außenhandel umgesetzt. Die Handelsbilanz ist stark negativ.

1,6Milliarden Dollar flossen im Vorjahr an ausländischen Direktinvestitionen ins Land.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.08.2016)

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