Rainer Hank: "Der Staat ist seinen Preis nicht wert"

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Rainer Hank rechnet im Buch "Die Pleite-Republik" mit der schuldenfinanzierten Wohlfahrt ab. Der liberale "FAZ"-Journalist hält Glückskommissionen für den Weg zur Schreckensherrschaft.

Sie behaupten, dass der Wohlfahrtsstaat die Bürger entmündigt und uns die Schuldenkrise beschert hat. Wenn es so wäre: Das würden sich die Bürger doch nicht gefallen lassen. Wir leben in einer Demokratie.

Rainer Hank: Der Staat hat sich Verführungen überlegt, mit denen er den Bürgern die Mündigkeit abkauft. Und die rebellieren nicht dagegen. Denn mündig sein ist nicht immer angenehm. Freiheit trägt das Risiko des Scheiterns in sich. Der Staat verspricht, das Risiko abzunehmen. Dazu kommen finanzielle Wohltaten aller Art.

Die Schuldenkrise verdanken wir dem US-Finanzsystem. Suchen Sie die Wurzel des Problems am falschen Ort?

In Amerika ist der Sozialstaat weniger ausgebaut als in Europa. Dafür fühlen sich die Politiker sehr verantwortlich, dass alle einen Job haben. Aber seit 20 Jahren gibt es Wachstum ohne neue Jobs, die Einkommensschere geht dort wirklich extrem auseinander. In diesem Punkt hat die Occupy-Bewegung recht: Das „eine Prozent“ hat sich abgekoppelt. Die Politiker versuchten, das zu kompensieren, indem sie Eigenheime finanziell extrem förderten. Leuten ohne Eigentum wurde das Schlaraffenland versprochen. Die Banken machten dankbar mit: Sie vergaben Hypothekenkredite jenseits aller normalen Risikokalkulation. Aber im Kern der Finanzkrise steckte Sozialpolitik.

Was hat das mit Europas Schuldenkrise zu tun?

In beiden Fällen geht es um Folgen staatlicher Wohlfahrt. Der Sozialstaat hat die Tendenz, immer mehr Geld auszugeben und sich immer neue Aufgaben einfallen zu lassen. Weil die Bürger nicht gerne Steuern zahlen, schließt die Regierung mit ihnen ein Bündnis zulasten späterer Generationen: Sie nimmt Schulden auf. Das ist feig. Oft werden die Ausgaben als Investitionen verbrämt, für die uns die Nachkommen dankbar sein werden. Die können ja nicht gefragt werden, weil sie noch nicht geboren sind.

Wollen Sie den Sozialstaat abschaffen?

Ich bin kein Radikalkritiker des Sozialstaates. Die kollektiven Versicherungen zu Ende des 19. Jahrhunderts waren eine geniale Idee. Sie federten Folgen der Industriellen Revolution ab: das Ende des sozialen Netzes der Großfamilie, die Gefahr von Massenarbeitslosigkeit in Wirtschaftskrisen. Wir sollten dieses Arrangement belassen – aber nicht in dieser Höhe. Gute Absicherung ist effizienter und billiger möglich. Und wir müssen den Sozialstaat zurückführen auf Freiheitsentscheidungen der Menschen.

Der Staat hat aber auch neue Aufgaben übernehmen müssen. Zum Beispiel, die sinkenden Geburtenraten zu stoppen.

Die Fruchtbarkeit einer Gesellschaft ist das Ergebnis von freien Entscheidungen, von zutiefst privaten Angelegenheiten. Das geht den Staat nichts an. Davon abgesehen führt der hohe Mitteleinsatz für diesen Förderzoo zumindest in Deutschland nicht zum Ziel. Das Elterngeld etwa hat als Anreiz für höhere Geburtenraten völlig versagt.

Der Staat muss auch mehr Geld in Bildung investieren, damit wir in der Globalisierung bestehen können.

Es gibt auch eine Form von gutem Paternalismus. Er macht sich selbst überflüssig, weil er Menschen ermächtigt und ermuntert, selbstständig zu handeln. Das leistet die Bildung. Sie ist Aufgabe der Eltern, aber subsidiär auch des Staates. Er soll sie anstoßen, von mir aus auch finanziell. Aber das heißt nicht zugleich oder gar ausschließlich durch staatliche Schulen. Es soll eine Bildungspflicht geben. Aber wie die Menschen zur Bildung kommen, ist ihnen zu überlassen. Von Wettbewerb profitieren alle. Noch etwas: Die allgemeine Schulpflicht ist ein Skandal. Wenn ein Vater sein Kind wie weiland der alte Goethe selbst erziehen will, dann soll er es tun dürfen.

Die Einkommensschere geht auch in Deutschland auseinander. Das wird als ungerecht und bedrohlich empfunden. Also muss der Staat mehr Transfers zahlen.

Wenn Sie von Ihrem Vater ein Vermögen geerbt haben und ich nicht, ist das kein Gerechtigkeitsproblem – solange uns das Privateigentum heilig bleibt. Dennoch erleben wir Ungleichheit sehr ambivalent. Ich gönne meinem Nachbarn nicht, dass er ein dickeres Auto hat als ich. Wie gehe ich damit um? Ich kann sagen: Ich tue alles, um mir auch so ein Auto leisten zu können. Der ist ja nicht schlauer als ich, wäre doch gelacht. So stimuliert die Differenzerfahrung den Wettbewerb. Oder aber sie lähmt mich, macht mich unglücklich, depressiv. Diese negative Erfahrung will der Staat durch Umverteilung ausgleichen. Wenn ihm das gelingt, nährt er die Erwartung: Ich muss mich nicht bemühen, die Umstände sind schuld, der Staat wird es richten. Wenn er es nicht richtet, werde ich noch unglücklicher. Die Effekte verstärken sich selbst. Das macht unmündig und schafft einen Staat, der seinen hohen Preis nicht wert ist.

Aber die Unglückserfahrung gibt es. Damit sollten wir uns nicht abfinden.

Die Menschen sollten in den Stand gesetzt werden, ungleich verteilte Einkommen auszuhalten. Auch dazu hilft Bildung.

Wohlfahrt muss nicht viel kosten. Regierungen lassen sich immer öfter von Verhaltensökonomen zeigen, wie sich das Glück der Bürger mehren lässt. Wir sollen zum Beispiel gesünder leben. Dazu setzt der Staat weniger auf Verbote als auf versteckte Anreize – also keine Bevormundung mehr.

Das halte ich für sehr gefährlich. Ich bin den Ökonomen böse, die sich da so willfährig einspannen lassen. Wenn Regierungen anfangen, das Glück der Bürger zu bestimmen, landen wir in einer Schreckensherrschaft. Die Französische Revolution endete im „Terreur“, uns droht ein psychischer Terror. Der neue Paternalismus ist ein raffinierter Taschenspielertrick: Ich zwinge dir nichts auf, sondern sage dir, was du wollen würdest, wenn du bei klarem Kopfe wärst. Da greift der Staat in meine Psyche ein. Natürlich geht es da drinnen widersprüchlich zu. Aber wer sagt denn, dass langfristige Interessen immer den kurzfristigen überlegen sind, wie die Verhaltensökonomen meinen? Bin ich nicht frei genug zu sagen: Der Genuss beim Rauchen ist mir wichtig, dafür nehme ich langfristige Nachteile in Kauf? Das eigene Ich zu modellieren, mit all seinen Nutzenfunktionen und Gefühlen, das sollten wir den Menschen selbst überlassen.

Kommen wir zur Eurokrise. Nur durch „mehr Europa“ können wir in der globalisierten Welt bestehen: Diesen breiten Konsens greifen Sie an. Warum?

Vor 500 Jahren hatten Chinesen und Europäer die gleichen Erfindungen. Aber wo hat man etwas daraus gemacht? Nicht im Riesenreich China, sondern im zersplitterten Europa. Sein Erfolg war gerade die Kleinstaaterei. Worauf es ankommt, ist nicht territoriale Größe, sondern Spezialisierung, reger Austausch und offene Grenzen. Das ist auch die Idee des EU-Binnenmarktes. Damit meistern wir die Globalisierung, nicht durch eine Fiskal- und Sozialunion. Die bringt uns nur die Probleme mit dem Finanzausgleich, die wir schon national haben.

Warum glauben Sie, dass kleinere Einheiten besser wirtschaften? Gerade Kommunen verschulden sich oft bis über beide Ohren.

Weil sie bei uns das Geld anderer Leute ausgeben. Die Länder und Gemeinden brauchen viel mehr Fiskalautonomie, müssen selbst Steuern einheben und verwalten. Und wir brauchen ein Bailout-Verbot. Wenn eine Gemeinde ein Schwimmbad baut, müssen ihre Bewohner dafür einstehen, am besten durch eine Abstimmung. Alles muss überschaubar bleiben. Ich lebe seit 20 Jahren in Frankfurt, fühle mich den Menschen hier nahe. Das ist mein Lebensraum, ich weiß, was ich wofür bezahlen will. Die Menschen stimmen auch nicht gegen das Schwimmbad, weil sie selbst einen Pool haben. Sie wollen mehr, als nur ihren ureigenen Nutzen mehren.

neu erschienen

»Die Pleite-Republik«(446 Seiten) ist vor Kurzem im Blessing-Verlag erschienen.

Rainer Hank
ist seit 2001 Ressortleiter Wirtschaft der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. Seine Analyse „Der amerikanische Virus“ wurde 2009 als eines der besten Bücher zur Finanzkrise gelobt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.03.2012)

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