Im Mostviertel stirbt man nicht so schnell

Unter den Cousins Friedrich Riess, Susanne Riess und Julian Riess (v. l. n. r.) wird in Ybbsitz in neunter Generation Geschirr hergestellt.
Unter den Cousins Friedrich Riess, Susanne Riess und Julian Riess (v. l. n. r.) wird in Ybbsitz in neunter Generation Geschirr hergestellt.(c) Die Presse (Clemens Fabry)
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Dem Emaillegeschirrhersteller Riess-Kelomat wurde 1980 ein baldiges Ende prophezeit. Die Familie blieb bei der Killerkombination aus Kleinserien, heimischen Löhnen und hundertjährigen Maschinen – und überlebte damit die Konkurrenz.

Manchmal fühlt sich so ein Familienunternehmen an wie ein altes Kloster, sagt Friedrich Riess. Die Zeit wird in seinen Mauern mit anderen Maßen gemessen. Beim gleichnamigen Mostviertler Emaillegeschirrproduzenten reagierte die achte Generation daher auch nicht sofort, als sich der Rest der österreichischen Geschirrhersteller in den Siebzigern und Achtzigern panisch ins billigere Ausland oder auf vollautomatisierte Massenfertigungen verlegte. In Ybbsitz an der niederösterreichischen Eisenstraße vertrauten sie weiter auf die hochgewachsene schwarze Tiefziehpresse aus 1926 und ihre kleinen Produktionsserien.

Ein Jahr verging, und noch eines. Und plötzlich stiegen die Verkaufszahlen bei den Milchkannen entgegen allen Trends und Prophezeiungen an. Was war passiert? Größen wie Austria Email hatten das Geschirr für verloren erklärt, Kleinmengen wie Kannen tat sich keiner mehr an. Die Familie Riess ging als einzige Überlebende aus dem Branchenexodus, wenn auch schwer dezimiert mit siebzig Mitarbeitern, hervor – und kaufte auf, was die anderen nicht mehr haben wollten. 600 Formen umfasst ihr Lager heute. Nostalgische Relikte wie Bergarbeiterbrotdosen, Milchkannen, Waschschüsseln und Nachttöpfe inklusive.


Generationen statt Quartale. Der Zeitgeist kommt dem Betrieb entgegen. Die Artikel, die man fast auflassen wollte, sind heute mehr in Mode als bei der Erstanfertigung in den Zwanzigern. „Seit 1980 wird uns der Tod vorhergesagt“, sagt Friedrich Riess. Die Umsatzzahlen tragen diese Prophezeiung nicht mehr. Sie stiegen in den vergangenen Jahren jährlich zweistellig auf etwa 17 Mio. Euro. Heute arbeiten wieder 135 Menschen im Werk in Ybbsitz. Einen fremden Investor ließ die Familie in der schwierigen Zeit nicht ins Haus. Das hätte die klösterliche Zeitmessung gestört. Die richte sich nach Generationen, nicht Quartalen, sagt Friedrich Riess.

Eine „Gratwanderung“ sei es immer gewesen, seit er gemeinsam mit seiner Cousine Susanne und seinem Cousin Friedrich Österreichs letzten Geschirrproduzenten 2001 übernahm, erzählt Verkaufschef Julian Riess. Der Wechsel von der achten zur neunten Generation ging mit der Übernahme der Druckkochtopf-Marke Kelomat einher, die die Väter nicht mehr selbst besiegeln wollten. Seitdem tragen die Niederösterreicher zwar einen Doppelnamen, am Standort selbst merkt man aber wenig von der zweiten Linie. Man produziert hier nur Emaille. Man identifiziert sich hier nur mit Emaille, sei es als Geschirr, Schild oder Industriestoff. Kelomats Töpfe und Pfannen werden in anderen Ländern gefertigt, einige stehen im Lager, man streift sie kurz.


„Herr Julian“ und „Herr Friedrich“.
Schon die Väter wurden im Betrieb „Herr Julian“ und „Herr Friedrich“ gerufen. Gemeinsam mit ihrer Cousine bestreiten nun die Söhne die Gratwanderung. Vorsichtig geworden durch die Erfahrung der Vergangenheit, verabschiedete man im internationalen Wettbewerb mit Größen wie WMF jeglichen Luxus. Sekretärinnen oder Dienstwägen gibt es keine. Das Adjektiv „funktional“ beschreibt das Hauptgebäude in Ybbsitz am besten. „Wenn es einmal schlechter geht, müssen wir uns nicht von etwas entwöhnen, das wir nie hatten“, sagt Friedrich Riess.

Den gleichen Einsatz fordert man auch von den Mitarbeitern ein. Fertige Lehrlinge müssen bei Riess Kelomat nicht nur die Tiefziehpresse, sondern auch die CNC-Drehbank und die Computer bedienen – und im besten Fall noch das hauseigene Wasserkraftwerk aus 1926 und die ebenso alte schwarze Presse warten. Wenn 50 Prozent der Ausgaben pro Emailletopf in Pensions- und Sozialversicherungsabgaben fließen, während in China für einen Zehntel des Lohns die Bänder laufen, geht es nicht anders. Die Ansprüche schrecken anscheinend nicht sehr ab. Bis zu 40, 45 Jahren sind die Männer und Frauen im Betrieb angestellt. Viele wohnen in den Mitarbeiterhäusern am Bach am Rand des Grundstücks, die die Eigentümerfamilie während der Wirtschaftskrise bauen ließ, oder kommen aus den Nachbargemeinden. Dort weiß man, was man am verbliebenen Arbeitgeber der einst florierenden Eisenstraße hat. Nur wenige würden wie Friedrich Riess gut gelaunt betonen: „Hier ist das Zentrum der Welt. Es kommt nur darauf an, wo du die Kugel hindrehst.“

Verständlicher wird seine Weltsicht, wenn man die Anfänge von Riess Kelomat bedenkt. Das Familienunternehmen geht auf eine 1550 in Ybbsitz gegründete Pfannenschmiede zurück. 1922 erfolgte die Spezialisierung auf das Emaille – wenige Jahrzehnte nachdem der böhmische Arzt Adolf Pleischl eine bleifreie Emaillierung erfunden hatte, wodurch die Verwendung bei Geschirr gesundheitsunschädlich wurde und schnell in Mode kam.

Emaille (oder wahlweise Email geschrieben, was im Internetzeitalter seine Tücken haben kann) verbindet heute jeder mit dem Blümchengeschirr der Großmutter. Dabei kommt es mittlerweile überall dort vor, wo Hitzefestigkeit bis 450° Celsius und Kratzfestigkeit gefragt sind: in Backöfen, U-Bahnschächten, Kraftwerken oder, in „Wiener Blau“ gehalten, auf den Straßenschildern der Hauptstadt.

Emaille ist – einfach gesagt – Glas, das auf Eisen gebrannt wird. Nachdem die Rohformen für die Gugelhupfe, Häferl und Weitlinge im vorderen, männlich dominierten Teil der Werkshalle gestanzt und gepresst werden, wird es im hinteren Teil deutlich bunter. Ein perfekt synchronisiertes Ballett ist hier im Gange. Da werden Pfannen mit roter Farbe besprayt, dort tauchen Frauen Becher in ein Mintgrün ein, daneben rotieren grau bemalte Tassen um ihre eigene Achse, um die überflüssige Farbe abzuschütteln. Über allem schwebt das Geschirr in zwei Etagen in und aus dem selbstentwickelten Brennofen. Was matt war, wird bei 850° Celsius zum Glänzen gebracht.


Töpfe auf Reisen.
Nebenan schlagen Frauen die fertigen Artikel bereits in braunes Papier ein und machen sie reisefertig. Das Emaillegeschirr wird in Kleinstmengen an etwa 300 österreichische und rund 1000 deutsche Haushaltswarenhändler ausgeliefert. Das gehört zur Philosophie wie die Entscheidung, selbst keinen Onlineshop zu betreiben. „Wir wollen nicht unsere Händler ausschalten, das ist vielleicht ein bisschen konservativ, aber wir müssen geradlinig bleiben“, sagt Julian Riess. Auf Amazon findet man Riess Kelomat über Drittanbieter trotzdem – so weit konnten die Mostviertler die Globalisierung nicht aufhalten.

Das Wachstum der vergangenen Jahre in den deutschsprachigen Heimmärkten sieht Julian Riess zu Ende gehen. Die Nachfrage sei langsam gesättigt, selbst im kauffreudigen Bayern mit seinen Bierzelten und Oktoberfesten, wo die Mentalität der im Mostviertel näher komme als im imperialen Wien. Das Wachstum soll in Zukunft im Rest Europas und in den stark wachsenden asiatischen Märkten angekurbelt werden. Vor allem Chinas neue Mittelschicht hat Gefallen an den pastellfarbenen Metalltöpfen mit dem Riess-Siegel „Made in Austria“ am Boden und den mitgelieferten österreichischen Rezepten vom Kaiserschmarrn gefunden. Die eigenen, billigeren Konkurrenzprodukte will sie nicht.

Ein chinesischer Produzent bewies besonderes Gespür für den Trend zum Emaille. Er nannte sich „Reiss“ und baute die österreichische Homepage eins zu eins nach. Bevor er Diskonter mit seinen Töpfen beliefern konnte, hatten ihn die Ybbsitzer aber bereits gestoppt. Auch Plagiatoren haben es in der digitalen Zeit nicht leichter. 

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.08.2017)

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