Blasse Blüte im deutschen Osten

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Waren Kohls »blühende Landschaften« ein falsches Versprechen? Zum Mauerfall-Jubiläum ist der Tenor versöhnlich: Mehr war nicht drin – und die Wende ein wirtschaftlicher Erfolg.

Wenn er nur geschwiegen hätte! Das kecke Versprechen nehmen Helmut Kohl viele bis heute übel. Es war Sommer 1990, die Westmark wurde in der DDR als offizielles Zahlungsmittel eingeführt, und der Wendekanzler ließ sich in der Euphorie des historischen Augenblicks zu einer poetischen Vision hinreißen: „Schon bald“ würden sich die Länder im deutschen Osten in „blühende Landschaften“ verwandeln, verkündete der Architekt der Einheit in einer Fernsehansprache. 1991 präzisierte er: In „drei bis vier Jahren“ sollte es so weit sein. Da war die ostdeutsche Industrie bereits fast kollabiert, die Arbeitslosigkeit dramatisch gestiegen und der Exodus der Jugend in vollem Gang. Bei den „blühenden Landschaften“ dachten bald viele an rostige Industrieruinen in entvölkerten Landstrichen, die sich die Natur mit wucherndem Unkraut zurückerobert.

Und heute? Auch ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Mauer ist das Versprechen gleichen Lebensstandards nicht erfüllt. Die Wirtschaftsleistung je Einwohner liegt in den neuen Ländern nur bei 71 Prozent des Westniveaus. Die Stundenlöhne erreichen 77 Prozent, das verfügbare Einkommen immerhin 83 Prozent. Dafür sorgen auch üppige Transfers: Immer noch hängt jeder Ostdeutsche mit 1900 Euro jährlich am finanziellen Tropf des Westens. Am Rückstand wird sich so bald nichts ändern. Denn die Aufholjagd ist schon vor gut zehn Jahren zum Stillstand gekommen. Kohls Nachfolgerin Angela Merkel, dem Pathos ohnehin abhold, resümiert nur noch vorsichtig, Ostdeutschland sei „alles in allem“ eine Erfolgsgeschichte.

Darin aber geben ihr mittlerweile die Ökonomen quer durch alle Lager recht. Überzogen und naiv war nur, die Konvergenz rasch bis zur völligen Angleichung treiben zu wollen. Im Westen: eine der leistungsfähigsten Volkswirtschaften mit globalen Konzernen und mittelständischen Weltmarktführern. Im Osten: nach 40 Jahren Planwirtschaft nur eine völlig unproduktive Industrie, der die Maschinen auseinander- und die Absatzmärkte wegbrachen. Solch disparate Ökonomien in ein, zwei Generationen zu nivellieren, schaffen nicht einmal die Deutschen. In Italien und Spanien gibt es seit Jahrhunderten gewaltige Gefälle zwischen Nord und Süd. Auch innerhalb der alten BRD sind die regionalen Unterschiede groß. Niemand käme etwa auf die Idee, der Bayerische Wald müsse mit München gleichziehen.

Kosten: zwei Billionen. Im Rahmen des Möglichen, lautet der Tenor, habe die Politik aber richtige Weichen gestellt. Ob die Ostdeutschen sich weiter vorarbeiten, liegt spätestens mit Ablauf des Sozialpakts II im Jahr 2019 in ihren eigenen Händen. Erschreckend teuer kam die Starthilfe allemal: Über zwei Billionen Euro flossen in den „Aufbau Ost“, 60 Prozent davon in Sozialleistungen. Selbst Kohls schärfster Kontrahent, Oskar Lafontaine von der SPD, rechnete nur mit der Hälfte dieser Kosten – und wurde deshalb als Schwarzseher gescholten. Kohl selbst behauptete anfangs gar, die Wiedervereinigung ließe sich ganz ohne höhere Steuern finanzieren, was sich bald als kolossaler Irrtum erwies.

Manche Ökonomen halten die D-Mark-Währungsunion mit dem Umtauschverhältnis eins zu eins bis heute für einen Kardinalfehler. Denn der Schutz des Wechselkurses fiel damit über Nacht weg. Plötzlich waren die Ostlöhne viel zu hoch und die Unternehmen gar nicht mehr wettbewerbsfähig. Schon 1991 war über eine Million Ex-DDR-Bürger offiziell arbeitslos, weitere 1,4 Millionen steckte man zur Schönung der Statistik in „Maßnahmen“ zur Weiterbildung und Arbeitsbeschaffung. Die Treuhand musste 30 Prozent der „volkseigenen Betriebe“ liquidieren. Die Verkäufe an Wessis brachten so wenig ein, dass die Anstalt 1994 mit einem dicken Minus von umgerechnet 131 Mrd. Euro schloss.

Exodus gestoppt. Aber was wäre die politische Alternative gewesen? „Kommt die D-Mark nicht zu uns, kommen wir zu ihr“, drohten die Ossis nach dem Mauerfall. Ohne die Währungsunion wäre der demografische Aderlass wohl noch viel dramatischer ausgefallen. Auch so haben 1,8 Millionen Menschen ihre Heimat auf Dauer verlassen – vor allem die Jungen. Erst jüngst kam die Binnenwanderung per Saldo zu einem Halt. Lang war die Arbeitslosenrate im Osten doppelt so hoch wie im Westen. Dass sie sich nun langsam annähert (Ost: 9,0 Prozent, West: 5,6 Prozent), liegt auch am Fachkräftemangel. Wer geblieben ist, findet nun relativ leicht einen Job.

Die Wirtschaft aber fasste nach dem Schock recht rasch wieder Fuß. Dank hoher Investitionen und moderater Lohnabschlüsse entstanden wettbewerbsfähige Unternehmen. Die Re-Industrialisierung gelang. Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes liegt heute höher als in den USA oder Frankreich. Dass die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung weiter deutlich nachhinkt, hat strukturelle Gründe: Große westdeutsche Firmen, wie die Autohersteller BMW, Volkswagen und Daimler, nutzen den Osten als verlängerte Werkbank. Forschung, Entwicklung und Konzernzentrale bleiben im Westen. Wertschöpfungsreiche Branchen wie Banken und Versicherungen fehlen. Es dominieren eher kleine und damit weniger produktive Unternehmen. Hochwertige Dienstleister in IT oder Beratung sind dünn gesät. Das alles verhindert ein schnelleres Aufholen.

Positiv ist die Bilanz der Ostpolitiker: Sie schöpften zwar bei der Aufbauhilfe aus dem Vollen, setzten diese aber in der Regel zweckgerichtet ein. Die Innenstädte sind heute saniert, die Straßen in besserem Zustand als vielerorts im Westen. In den Bildungsrankings belegen Sachsen und Thüringen die ersten Plätze. Die beiden Vorzeigeländer hielten die Bildungsausgaben konstant, obwohl die Ost-Geburtenrate durch die Unsicherheit nach der Wende eingeknickt ist und heute mit 1,4 Kindern pro Frau so niedrig wie im Westen ist. Eine der wenigen Errungenschaften der DDR, die hohe Beteiligung der Frauen am Erwerbsleben und die fast flächendeckende Versorgung mit Krippenplätzen, blieb in den neuen Ländern erhalten und dient heute als gesamtdeutsches Vorbild. Und auch wenn sie beim Schuldenmachen die Gnade des späten Starts erfahren haben: Dass alle fünf östlichen Bundesländer Haushaltsüberschüsse erzielen, müsste weit finanzkräftigere, aber hoch verschuldete Regionen wie Nordrhein-Westfalen beschämen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.11.2014)

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