Matterhorn 1865 und das Goldene Zeitalter des Alpinismus

Matterhorn-Absturz gezeichnet von Gustav Dore
Matterhorn-Absturz gezeichnet von Gustav Dore
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Vor 150 Jahren, am 14. Juli 1865, gelang die Erstbesteigung des Matterhorn. An diesem Tag vollzog sich ein Triumph – und eine Tragödie.

Eine von Dämonen errichtete Schranke schien sich um die steilen Wände des Matterhorn zu winden. Bis dahin konnte man gehen, aber weiter nicht, die fast senkrechten Felsmauern schienen unbezwingbar, der Gipfel unerreichbar, der Berg unbesiegbar. Die Versuche, ihn von der italienischen Seite her zu besteigen, scheiterten in den Jahren nach 1857 allesamt. Die abergläubischen Bewohner der umliegenden Täler sprachen von Zwergen, Kobolden, Geistern, einer in Trümmern liegenden Stadt oben auf dem Gipfel. Leute, die sonst recht vernünftig dachten, phantasierten unsinniges Zeug, wenn es um diesen Berg ging, den letzten unbezwungenen Gipfel der Alpen.

Derlei irrationales Geschwätz befremdete die Alpintouristen aus dem damals wirtschaftlich mächtigsten Land der Welt, die rationalen und kühlen Briten. Systematisch wurden die Viertausender der Schweiz von ihnen erobert. Sie waren angewiesen auf die heimischen Bergführer und begegneten ihnen mit britischer Arroganz.

Britische Sportsmen auf den Bergen

Die Bildungskluft zwischen den alpenbegeisterten englischen Naturwissenschaftlern und den heimischen Naturburschen, die einen schwer verständlichen Dialekt sprachen, war oft enorm. Der Mont Blanc wurde 1787 erstmals vermessen von dem berühmten Geologen und Botaniker Horace de Saussure, seither wissen wir, dass der Mont Blanc der höchste Gipfel Europas ist. Der Brite John Tyndall, der ab 1862 immer wieder das Matterhorn zu bezwingen versuchte, war ein berühmter Physiker. Leslie Stephen, ein angesehener Cambridge-Historiker und Vater der Schriftstellerin Virginia Woolf, gründete den Alpine Club und bestieg selbst einige anspruchsvolle Gipfel.

Warum gerade Briten? Noch dazu waren etliche anglikanische Priester unter den Alpinisten. Sie waren allesamt sportbegeistert, Anhänger der „muscular christianity“, einer Bewegung, die fromme Lebenshaltung und körperliche Ertüchtigung predigte. Die englischen Bergsteiger waren in der Regel ausgezeichnete Läufer und Ruderer, spielten Kricket, hielten das britische Fair Play hoch. Man kann sich das Zusammentreffen dieser aufgeklärten Privatgelehrten und Aristokraten mit den Einheimischen der Alpenregion durchaus als Zusammenprall gegensätzlicher Kulturen vorstellen, die verschiedene Zeitalter repräsentierten und nun aufeinander angewiesen waren: Ohne die Ideen und Pläne der Alpinisten war die Bezwingung der Gipfel undenkbar, ohne die einheimischen „Bauern“ wiederum war die systematische Unterwerfung der Berge nicht zu leisten.

Klettern wird ein sportiver Event

Edward Whymper, in London in einer Familie mit elf Kindern 1840 geboren, passte da nicht hinein, er war zwar auch sportlich, aber nicht akademisch gebildet, er war ausgebildeter Holzstecher und Aquarellist, er illustrierte Bücher und Zeitschriften, für einen Abenteuerlustigen war diese Arbeit „widerlich“. Mit 18 Jahren illustrierte er ein Buch mit dem Namen „Rocket“: Die Rakete, von der hier die Rede ist, ist Robert Stephensons Erfindung, die Lokomotive, die die märchenhafte Raketengeschwindigkeit von 50 Stundenkilometern schaffte. Dank der Eisenbahn war auch die Reise von London in die Alpen einfacher geworden, die viktorianischen Enthusiasten drängte es in die Berge.

Edward Whymper
Edward Whymper

Anfangs waren es wissenschaftliche Gründe gewesen, Saussure beobachtete am Gipfel des Montblanc ausgiebig den Puls der Bergführer, füllte Luft in Flaschen, zeigte, dass er nicht zum Vergnügen da hinaufgestiegen war. Man wollte anfangs die Natur vermessen und analysieren, eine Bergtour war eine „Nutzreise“ mit wissenschaftlich-technologischen Zielsetzungen. Doch nun wurde das Klettern auf die Berge Selbstzweck, ein sportiver Event: Die Jahrzehnte vor und um die Mitte des 19. Jahrhunderts gingen so rund 80 Jahre nach der Bezwingung des Mont Blanc als das Goldene Zeitalter des Alpinismus in die Geschichte ein, die meisten Erstbesteigungen der Westalpen-Gipfel, meist durch britische Alpinisten mit einheimischen Bergführern, fielen in diese Jahre.

Das Matterhorn war der letzte der Viertausender, dessen Eroberung noch Ruhm und Ehre versprach. (Nicht überliefert ist, ob die einheimischen Hirten, Gamsjäger, Bergbauern manche dieser Gipfel nicht längst en passant und ohne viel Getöse erobert hatten, doch das zählte nicht, das hatte nicht den adäquaten sportlichen Rahmen). Die Matterhorn-Erstbesteigung war Höhepunkt und Abschluss einer Ära, die nicht nur die Entdeckerlust der Menschen befriedigte, sondern zugleich einen zivilisatorischen Fortschritt bedeutete: Vor der Aufklärung waren schnee- und eisbedeckte, den Menschen feindlich gesinnte Berggipfel als Sitz böser Geister gemieden worden.

„Ein Zuckerhut mit schiefer Spitze“

Edward Whymper lässt nicht locker, treibt sich ab 1860 in der Gegend von Zermatt herum. Er sieht das Matterhorn erstmals am 12. August 1860 und ist wenig beeindruckt: „Ein Zuckerhut, dessen Spitze schief steht.“ Der Berg entspricht nicht dem, was sich die Zeitgenossen unter einer „schönen Landschaft“ vorgestellt haben. Whymper ist zunächst aus einem anderen Grund willkommen in Zermatt: Als guter Zeichner kann er die Erfolge des hier ansässigen „Alpine Clubs“ mit seinen Illustrationen festhalten. Doch allmählich fängt er Feuer: Er beginnt sich für die Gipfel zu interessieren, die umkämpft sind.

„Sie waren für mich Wegweiser und große Verzehrer von Fleisch und Branntwein, aber nicht viel mehr“ urteilte Whymper über die Männer, die sich ihm in der Schweiz als Bergführer anboten, Männer, „deren Gesichter Bosheit, Hochmut, Neid, Hass und Schlechtigkeiten jeder Art aussprachen, denen aber alle guten Eigenschaften zu fehlen schienen.“ Fand man einen tüchtigen Mann und streichelte ihm das Kinn, verlangte er einen exorbitanten Preis, die meisten Führer aus Zermatt glaubten aber inzwischen, dass das Matterhorn ohnehin unersteigbar war.

Einer wäre in Frage gekommen, ein kühner Kerl aus dem Wallis, aber dennoch mit den feinen Manieren eines Gentleman, der wegen seines revolutionären Bergsteigerstils „Garibaldi der Bergführer“ genannt wurde: Johann Joseph Benet, ein für die Engländer offenbar unaussprechlicher Name, sie nannten ihn daher „Bennen.“ Doch der war am 28. Februar 1864 in einem Schneebrett gestorben, der Unfall ist überliefert als der erste tödliche Lawinenabgang, der sich bei einer winterlichen Hochtour ereignete.

Nicht einmal zünftige Bergschuhe

Whymper, der perfektionistische Einzelgänger, ist entschlossen, er hat bereits sechs vergebliche Anläufe hinter sich. Er will den Matterhorn-Gipfel nicht von der italienischen Seite besteigen wie die anderen, sondern wendet sich einer neuen Route zu, die er selbst erdacht hat. Achtzehn Versuche seit 1857 hatten alle fast ausschließlich auf der Südseite stattgefunden, am Liongrat. Die Zeit drängt, ein Wettrennen zeichnet sich ab, im Dorf Zermatt finden sich englische, italienische, französische Alpinisten ein, sie alle wollen die ersten sein.

Whymper trommelt also eine ad-hoc-Mannschaft zusammen, das sollte sich als verhängnisvoller Fehler herausstellen. Er findet einen Bergführer, der zu ihm passt: Der 35-jährige Michel Croz aus Chamonix hat sich in den sechs Jahren seiner Bergführerkarriere einen legendären Ruf erworben, galt als gleichermaßen versiert auf Felsen wie in Schnee und Eis zu klettern und war bekannt für seine heftigen Gefühlsausbrüche. Peter Taugwalder war einer der besten Bergführer der Schweiz, als einer der wenigen in Zermatt hat der vierfache, verwitwete Familienvater daran geglaubt, dass der Matterhorngipfel zu bezwingen sei. Er nahm am 13. Juli seine beiden Söhne als Träger mit, sie trugen Lebensmittel, die für drei Tage ausreichten, für den Fall, dass unerwartete Verzögerungen aufträten. Der zweite Sohn wurde am ersten Abend zurückgeschickt.

Reverends Charles Hudson, damals der prominenteste Bergsteiger England und ein Frauenschwarm, der erst 18-jährige Lord Francis Douglas aus Schottland und die Kricket-Koryphäe Douglas Hadow, ebenfalls noch blutjung, Hudsons Schützling und das schwache Glied in der Seilschaft, vervollständigten die Gruppe, die sich am 13. Juli bei strahlendem Himmel um halb 6 Uhr von Zermatt aus aufmachte. Ein kurioses Team, denn Whymper und Hudson waren in den letzten Jahren Konkurrenten gewesen, hatten nie gemeinsam einen Berg bestiegen, und Douglas Hadow hatte nicht einmal zünftige Bergschuhe.

Triumph und Katastrophe nebeneinander

Sie übernachteten in der Nacht auf den 14. Juli oberhalb der heutigen Hörnlihütte auf etwa 3400 Metern. Drei Seile hatten sie dabei, ein dünnes normales, ein dickes als Ersatz, ein drittes, eine Neuerfindung, von dem man sich Wunderdinge an Unzerreissbarkeit versprach. Der Aufstieg über den Hörnligrat ging zur Überraschung der Gruppe problemlos vor sich, „nicht ein einziges Mal gebot uns ein ernstlichen Hindernis Halt“ steht in den Memoiren von Whymper. Als sie in Sichtweite des Gipfels waren, schlugen Ehrgeiz, Triumphgefühle und Leichtsinn los: Whymper löste sich aus dem Seil und stürmte los, war als erster am Gipfel: „Um Viertel vor zwei Uhr lag die Welt zu unseren Füßen, und das Matterhorn war besiegt.“ Sie blieben fünfzehn Minuten oben, Fahne hatten sie keine dabei, so wurde auf einer Zeltstange ein Hemd befestigt. Whymper zeichnete ein Panorama, die Namen der Erstbesteiger wurden auf einem Blatt Papier in einer Flasche hinterlegt.

Beim Abstieg formierte sich die die Seilschaft neu, sie waren müde, die Tritte waren schwieriger geworden.  Zuerst ging Croz, dann Hadow, dann Hudson, dann Douglas, also immer abwechselnd ein Profi und ein Amateur. Sie wurden durch ein 60 Meter Seil gesichert. Die folgenden Bergsteiger, Whymper und die beiden Taugwalders, waren durch ein zweites schwächeres Seil mit der Führungsgruppe verbunden.

Douglas Hadow
Douglas HadowMuseum Zermatt

Beim Abstieg rutschte dann der unerfahrene und ermüdete Hadow auf einer Eisplatte oberhalb der sogenannten Schulter aus, fiel auf Croz, beide stürzten und zogen Hudson und Douglas mit sich. Beim Versuch von Taugwalder senior, die Rutschenden zu halten, seine Hände begannen dabei zu bluten, riss das Seil und die vier stürzten 1000 Meter tief tödlich ab. Wenn das Seil nicht gerissen wäre, wären alle sieben verunglückt. Die übrigen drei blieben starr vor Schreck zurück. Die Ereignisse in der Schilderung von Whymper: „Einige Sekunden lang sahen wir unsere unglücklichen Gefährten auf den Rücken niedergleiten und mit ausgestreckten Händen nach einem Halt suchen. Noch unverletzt kamen sie uns aus dem Gesicht, verschwanden einer nach dem anderen und stürzten von Feldwand zu Felswand auf den Matterhorngletscher, in eine Tiefe von beinahe 1200 Metern hinunter. Von dem Moment, wo das Seil riss, war ihnen nicht mehr zu helfen. So starben unsere Gefährten! Wohl eine halbe Stunde blieben wir an Ort und Stelle, ohne einen einzigen Schritt zu tun. Die beiden Führer, von Schreck gelähmt, weinten wie Kinder und zitterten so, dass uns das Schicksal der anderen drohte.“

Das wurde später von den Taugwalders bestritten: Im Gegenteil, Whymper selbst sei so verstört gewesen, dass sie große Mühe hatten, ihn vom Berg herunterzubringen. Auf 4100 Meter verbrachten die Überlebenden die Nacht, am Morgen kehrten sie nach Zermatt zurück. Die Leichen wurden geborgen, die von Lord Douglas ist bis heute nicht gefunden worden.

Warum riss das Seil?

Am selben Tag war Whympers früherer Wegbegleiter, der Bergführer Jean-Antoine Carrel, von der italienischen Seite des Matterhorn mit einer italienischen Gruppe unterwegs, doch auf 4241 Meter Höhe, am Pic Tinydall, musste Carrel feststellen, das ihm sein einstiger Seilgefährte zuvorgekommen war. Italien verlor die Schlacht um den Gipfel. Es wäre schön gewesen, als Symbol für die junge Nation, als Erste den stolzen Gipfel zu erstürmen, doch das Matterhorn blieb ein Symbol der Schweiz, eine Reklamemarke: „Die Gipfel unserer Hochalpen sind das ideale Eigentum des ganzen Schweizervolkes.“ Dass das Matterhorn irgendwie auch zu Italien gehört, wurde geflissentlich übersehen.

Auch die „Neue Freie Presse“ hatte Mitschuld an der Legendenbildung rund um den Tod der Seilschaft. Sie schrieb im August 1865, dass das Seil nicht gerissen sei, sondern von Taugwalder abgeschnitten worden war, um sein eigenes Leben zu retten. Fachleute, die das Seil untersuchten (es liegt im Museum Zermatt) stellten jedoch fest, dass es gerissen war.

Seil im Museum Zermatt
Seil im Museum Zermatt

Der Skandal beruht eher darin, dass Edward Whymper Peter Taugwalder später vorwarf, mit Absicht das dünnere Seil zwischen sich und den anderen zum Sichern verwendet zu haben. Das ruinierte die Karriere des Bergführers und stellt Whymper in ein schiefes Licht: Er versuchte in der Folge in seinen Darstellungen des Unglücks immer, die Verantwortung von sich selbst wegzuschieben. Faseranalysen des Seils haben die Schnitt-Theorie nicht bestätigt, es wäre bei dieser Überbelastung auf jeden Fall gerissen. Bleibt die Theorie, Edward Whymper habe sich kurz vor dem Gipfel aus dem Seil geschnitten, um als Erster oben zu sein, und deshalb beim Abstieg das dünnere Seil benutzt werden musste.

Bergsteigen verlor seine Unschuld

Mit der Tragödie vom Matterhorn hatte das Bergsteigen, bis dahin eine romantische und idealistische Angelegenheit, seine Unschuld verloren. Es hat den Alpinismus verändert, erklärt uns Reinhold Messner: „Plötzlich stand das Bergsteigen in der Kritik. Die Öffentlichkeit diskutierte darüber, wie gefährlich Bergsteigen sei, ob man es verbieten sollte.“ Die „Times“ brachte in einem Monat mehr als vierzig Artikel. Aufgrund des Todes von Lord Francis Douglas wollte die britische Queen Victoria ein Verbot erlassen: Nie mehr sollte wertvolles englisches Adelsblut in den Alpen vergeudet werden. Das weckte die Abenteuerlust ihrer Landsleute natürlich noch mehr, britische Reisende kamen von da legionenweise, sie blieben Zermatt bis heute treu.

Reinhold Messner spricht im Interview mit der NZZ weiters vom 14. Juli 1865 als einer „Schlüsselbesteigung“: „Am Matterhorn trafen die Bergsteiger zum ersten Mal auf echte technische Schwierigkeiten; deshalb spreche ich hier vom Schwierigkeitsalpinismus.“ Seit her lotet jede Bergsteigergeneration ihre Grenzen aus, bis heute.

Heute machen sich in der Hauptsaison Dutzende auf den Weg zum Gipfel, gerade im Jubiläumsjahr folgen unzählige den Spuren der Erstbesteiger. Auch der Verfasser dieser Zeilen, doch nicht mit einer nervenzerreissenden Klettertour auf 4478 Meter, sondern bequem vom gegenüberliegenden Gornetgrat aus mit seiner 3089 Meter hoch gelegenen Aussichtsplattform, der „höchstgelegenen Freilichtbühne Europas.“ Denn noch heute gilt: Statistisch gesehen sollte jeder 200., der den Matterhorn-Gipfel besteigen will, vorher sein Testament machen.

Literatur

Edward Whymper Matterhorn. Der lange Weg auf den Gipfel. Mit einer Einführung von Sylvain Jouty. AS Verlag Zürich

Reinhold Messner Absturz des Himmels S. Fischer Verlag 2015

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