VOR DER KATASTROPHE: Wiener Frust im Sommer 1939

Wien, im Juni 1939. Es beginnt der letzte friedliche Sommer für lange Zeit. Doch von einer Idylle unter dem Dach des Großdeutschen Reichs kann keine Rede sein. Seit dem jubelnd begrüßten „Anschluss“ an Adolf Hitlers Reich ist es den „Ostmärkern“ gedämmert, dass sie doch nur eine Provinz unter vielen sind. In Wien greift die Enttäuschung tief.

Was ist von den blumigen Versprechungen des Gauleiters Josef Bürckel aus der Pfalz geblieben, der Wien „zur Stadt der Kunst und der kulturellen Bestrebungen“ machen wollte? Er ist zugleich Reichsstatthalter, und er weiß, wo die Menschen der Schuh drückt: Es herrscht Wohnungsnot.

80.000 Wohnungen fehlen – trotz der Deportation jüdischer Wohnungs- und Hausbesitzer und trotz der rigorosen „Arisierungen“. Von insgesamt 613.000 Wohnungen haben nur 3,8 Prozent mehr als vier Zimmer, aber 441.000 Wohnungen sind Klein- und Kleinstwohnungen. In Ottakring etwa bestehen neun von zehn Wohnungen nur aus Wohnküche und Kabinett, hat Gerhard Botz erhoben. In einer Eingabe an Berlin übertreiben die Wiener sogar – in der Hoffnung, mehr Mittel zu bekommen: 120.000 Wohneinheiten wären nötig, weil Militärs und Beamte aus dem „Altreich“ zugezogen seien und die nach Deutschland geflüchteten illegalen Nazis wieder heimgekehrt sind. Und die sind Besseres gewöhnt: „Hiezu kommt [...] dass unsere Parteigenossen durch ihren Aufenthalt im Altreich eine höhere Wohnkultur kennengelernt haben.“

Der Gauleiter schwärmt daher von einem umfassenden Siedlungsprogramm. Noch im Jahr 1939 könne man mit 5000 bis 7000 neuen Wohnungen rechnen, sagt er im Frühsommer 39. Und auch der Wiener Vizebürgermeister Thomas Kozich träumt davon: Statt einer weiteren Zusammenballung der Wiener im Stadtgebiet bevorzugen die NS-Städtebauer Stadtrandsiedlungen, die sich weit ins Niederösterreichische erstrecken sollen. Ein Teil der innerstädtischen Bevölkerung sollte ausgesiedelt werden: Bis nach Mödling, Eichkogel und zum Laaer Berg waren NS-Mustersiedlungen geplant.

Die „Volkswohnhäuser“: eine unvorsichtige Prophezeiung, denn die Uhr der Weltgeschichte tickt ganz anders. Der „Führer“ bremst daher seine braunen Paladine: „Lassen Sie sich auf keine großen Wohnbauprogramme ein“, warnt er den Wiener Bürgermeister Hermann Neubacher, „das kommt einmal, jetzt geht es nicht.“

Spektakel zur Ablenkung

Umso notwendiger waren für die Wiener Statthalter der NSDAP publikumswirksame Veranstaltungen. Seit 1938 setzte man ganz bewusst auf den österreichischen Lokalpatriotismus, auch wenn es offiziell nur noch eine „Ostmark“ gab. Seit dem legendären Fußballmatch vom 3. April 39 zwischen der „Deutschen Nationalmannschaft“ und der „Deutschösterreichischen Mannschaft“ im Wiener Stadion konnten die Wiener ihre Aggressionen bei so manchem Match ausleben: „Piefke“ tönte es da von österreichischer Seite; „Ostmarkschweine“ gaben die Fans aus dem „Altreich“ zurück, wenn die diversen Klubs gegeneinander antraten. Und der Fußballnarr Kozich (siehe oben)verteidigte die „Wiener Fußballschule“ vehement gegen jede Kritik. Vor allem der „Reichstrainer“ (und Parteigenosse) Sepp Herberger war den „Ostmärkern“ inzwischen zum Feindbild geworden. „Sindelar? Wer ist denn das? Soll das ein Fußballer sein?“, hatte Herberger kurz vor dem Tod des Superstars 1938 gehöhnt. Das haben ihm die Wiener nicht so schnell vergessen.

Der Aufmunterung der absolut nicht kriegslüsternen Wiener diente auch das sensationelle Höhenstraßen-Rennen vom 11. Juni 1939 (siehe nebenstehenden Bericht). Halb Wien soll damals auf den Beinen gewesen sein. Wir baten Peter Urbanek um eine Nacherzählung. Und der renommierte Experte begab sich auf Recherche in die Archive von Mercedes, von Audi und in die Nationalbibliothek. hws

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.06.2009)

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