Massaker von My Lai: "Glückwünsche den Offizieren"

Kinder und Frauen in My Lai, kurz vor ihrer Ermordung.
Kinder und Frauen in My Lai, kurz vor ihrer Ermordung.(c) Imago
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Im Blutrausch: Vor 50 Jahren ermordeten US-Soldaten in einem vietnamesischen Dorf mehr als 500 Menschen - darunter dutzende Säuglinge und mehr als 100 Kleinkinder. Er habe nur Befehle befolgt, sagte der Haupttäter. My Lai wurde zum Wendepunkt im Vietnamkrieg.

128 tote Vietcong-Kämpfer, keine eigenen Verluste. Das meldet der Einsatzbericht der "Charlie Company" für den 16. März 1968 im vietnamesischen My Lai. "Glückwünsche den Offizieren und Mannschaften zum ausgezeichneten Gefecht", telegrafiert General William C. Westmoreland, Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte in Vietnam. Es soll über ein Jahr dauern, bis die Wahrheit hinter dieser "Erfolgsmeldung" publik wird.

Tatsächlich ermordeten amerikanische Soldaten an diesem Tag innerhalb von zweieinhalb Stunden mehr als 500 unbewaffnete Bewohner des Dorfes - darunter dutzende Säuglinge und mehr als 100 Kinder. Genauer: Sie schlachteten sie ab.

US-Soldaten im Blutrausch

Die US-Soldaten wollen an diesem Tag vor 50 Jahren Vietcong, also Kämpfer der nordvietnamesischen Kommunisten, aufspüren. Erst am Vortag sind sie in einen Hinterhalt geraten, haben Kameraden verloren. In My Lai finden sie aber nur Zivilisten vor. Frauen und Kinder und alte Männer werden aus ihren Hütten gezerrt. "Anfangs hatten wir keine Angst, denn die Amerikaner waren schon zweimal dagewesen und hatten Süßigkeiten verteilt", erinnert sich Ha Thi Qui, eine der wenigen Überlebenden des Massakers in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".

US-Soldaten gönnen sich nach dem Massaker eine Pause.
US-Soldaten gönnen sich nach dem Massaker eine Pause.(c) Imago

Als dann der erste Schuss fällt, kennen die US-Soldaten kein Halten mehr. Sie verfallen in einen Blutrausch, anders kann man es nicht bezeichnen. Die Amerikaner vergewaltigen Frauen, stechen Schwangeren mit dem Bajonett in den Bauch, stellen die Menschen an die Wand und richten sie hin, skalpieren sie, schlagen ihnen Körperteile ab, töten Säuglinge durch aufgesetzte Schüsse in den Mund und verstümmeln die Toten. Frau Ha überlebt nur, weil sie in einem Wassergraben unter den Leichen ihrer Familienangehörigen begraben wird und das Bewusstsein verliert.

Der Journalist Seymour Hersh, der den Fall und die versuchte Vertuschung durch die US-Armee aufdeckt, schreibt im November 1969, eineinhalb Jahre nach dem Massaker, als erster über das Massaker. "Nachdem sie alle abgeschlachtet hatten, setzten sie sich neben den Graben mit all den Leichen und aßen zu Mittag. Ernsthaft!", zitiert ihn der deutsche TV-Sender NDR. "Dann hörten sie ein Weinen. Ein vielleicht zweijähriger Junge, der das Schießen überlebt hatte, kroch aus dem Graben. Krabbelte zwischen all den Toten hervor, über und über mit ihrem Blut besudelt und rannte davon. Und Leutnant William Calley sagte zu einem seiner Soldaten: 'Los, erledige ihn!' Aber der konnte es nicht. Also zog Calley seine Pistole und erschoss das kleine Kind."

Lebenslange Haft, aber Nixon begnadigt den Haupttäter

Calley, der führende Offizier, wird als einziger der beteiligten Soldaten für seine Beteiligung an dem Kriegsverbrechen verurteilt - zu lebenslanger Haft. Allerdings darf er seine Strafe als Hausarrest absitzen, ehe er nach drei Jahren auf Intervention des damaligen US-Präsidenten Richard Nixon wieder freigelassen wird. Ernest Medina, Calleys direkter Vorgesetzter, wird zwar ebenfalls vor Gericht gestellt, allerdings von einem Star-Anwalt verteidigt und 1971 in allen Anklagepunkten freigesprochen.

William Calley mit seinem Anwalt.
William Calley mit seinem Anwalt.(c) Imago

In der Wahrnehmung der US-Öffentlichkeit ist My Lai ein Wendepunkt. Zwar wird der Täter von weiten Teilen der Bevölkerung zu Beginn oft auch als Opfer betrachtet - Calley habe nur Befehle empfangen -, doch das Bild der eigenen Truppen als Befreier bricht immer mehr zusammen: Der US-Soldat auch als Kriegsverbrecher wird zu einem Bild, an das sich die Amerikaner gewöhnen müssen.

Was machte dieses Massaker überhaupt möglich?

Anfang 1968 greifen die nordvietnamesischen Truppen und der Vietcong im Zuge der "Tet"-Offensive fast flächendeckend wichtige militärische und infrastrukturelle Ziele an. Den südvietnamesischen Regierungstruppen und den US-Streitkräften gelingt es jedoch, diese Offensive abzuwehren. Der Blutzoll des Vietcongs ist hoch: zwischen 50.000 und 100.000 Kämpfer werden getötet - bis zu ein Drittel der Truppen. Das militärische US-Oberkommando sieht sich plötzlich vor der einzigartigen Möglichkeit, diesen Krieg doch noch zu gewinnen. General Westmoreland gewährt daraufhin den US-Truppen eine bislang nicht gekannte Handlungsfreiheit. Die Schutzbestimmungen für Zivilisten werden vorübergehend außer Kraft gesetzt. Er öffnet damit die Büchse der Pandora. Die gültigen Einsatzrichtlinien werden ausgehebelt, Dörfer dürfen ohne vorherige Rücksprache angegriffen werden. Hinzu kommt, dass das US-Oberkommando schon seit längerem tägliche Leichenzählungen ("body counts") angeordnet hat. Die Offiziere werden immer wieder aufgefordert, möglichst hohe "body counts" zu vermelden.

Die Soldaten der C-Company unter Führung Ernest Medina sind frustriert und demoralisiert, als sie sich auf den Weg in das Dorf My Lai machen. Seit dem Februar hat die Einheit jeden fünften Soldaten durch Minen und Sprengfallen verloren. Erfolge sind keine sichtbar. "Der bloße Gedanke an den nächsten Tag ließ bereits das Adrenalin fließen. Endlich würden wir tun können, wofür wir hier waren. Endlich, endlich würde es passieren", so ein Beteiligter über die Stimmung der Truppe am Abend des 15. März 1968.

Die drei mutigen Amerikaner von My Lai

Am 16. März 1998 kehrten Hugh Thompson (links) und sein Bordschütze Lawrence Colburn nach My Lai zurück.
Am 16. März 1998 kehrten Hugh Thompson (links) und sein Bordschütze Lawrence Colburn nach My Lai zurück.(c) Reuters (Claro Cortes)

Das Wort Held scheint im Zusammenhang mit dem Massaker von My Lai unangebracht. Aber nicht alle Amerikaner lassen sich durch die Geschehnisse in My Lai entmenschlichen. Der Hubschrauberpilot Hugh Thompson, der das Abschlachten aus der Luft beobachten muss, landet sein Fluggerät und stellt sich Leutnant Calley entgegen. "Was ist hier los, Leutnant?", will er wissen. "Das ist meine Angelegenheit", sagt Calley. "Was ist das? Wer sind diese Leute?", bohrt Thompson nach. "Ich befolge bloß Befehle", beharrt Calley. "Befehle, wessen Befehle?", fragt daraufhin Thompson. "Befolge bloß...", erwidert Calley, doch Thompson lässt ihn nicht aussprechen: "Aber das sind Menschen, unbewaffnete Zivilisten, Sir!" Daraufhin erklärt Calley dem Hubschrauberpiloten, er soll sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern und beendet das Gespräch.

Thompson besteigt den Hubschrauber und hebt wieder ab. Als Thompson und die beiden Bordschützen Glenn Andreotta und Lawrence Colburn mitansehen, wie eine Gruppe Vietnamesen, verfolgt von US-Soldaten, panisch in Richtung eines Bunkers flieht, landet der Pilot den Hubschrauber zwischen den Verfolgten und den US-Soldaten. Thompson weist die beiden Schützen an, das Feuer auf die eigenen Soldaten zu eröffnen, sollten sie weiter versuchen, unschuldige Menschen zu töten. Er selbst verlässt den Hubschrauber und erklärt einem ranghöheren Soldaten, er werde die Menschen aus dem Bunker holen. Dieser schlägt ihm daraufhin vor, eine Handgranate in den Bunker zu werfen. Nach einigen Diskussionen mit dem Soldaten gelingt es Thompson elf Vietnamesen, die er erst zum Verlassen des Bunkers überreden muss, zu retten.

Genau dreißig Jahre nach den Geschehnissen von My Lai erhalten Thompson, Andreotta und Colburn die "Soldier's Medal for Heroism" verliehen. Der mittlerweile verstorbene Thompson hat sich selbst aber nie als Helden gesehen. "Da standen Leute am Graben in einer Reihe, so 170, mit erhobenen Händen über den Köpfen. Sie wurden hingerichtet. Das ist kein Krieg, das ist nicht, was ein Soldat für sein Land tut. Das sind Mörder."

My Lai heute

Zur Erinnerung an das Massaker der US-Truppen im Vietnam-Krieg soll in My Lai nun ein Friedenspark entstehen. "Dieses Projekt ist nicht nur ein Symbol für uns, sondern auch ein Ort, an dem die Welt zusammenkommen soll, um für Frieden zu beten und gegen den Krieg zu protestieren", sagt der verantwortliche Parteifunktionär Dang Ngoc Dung.

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