Europa irrt: Der Brexit ist alles andere als ein Betriebsunfall

Ist der Brexit irrational und verrückt oder nur neuer und kühner Ausdruck des sprichwörtlichen britischen Common Sense?
Ist der Brexit irrational und verrückt oder nur neuer und kühner Ausdruck des sprichwörtlichen britischen Common Sense?REUTERS
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Ist der Brexit irrational und verrückt oder nur neuer und kühner Ausdruck des sprichwörtlichen britischen Common Sense?

Es gibt viele Dinge, die man in Großbritannien anders gemacht hat als der Kontinent. Und sehr oft machten es die Briten besser. Despotie und Aggression bekämpften sie erfolgreich, wenn der Rest der Welt zur Kapitulation neigte. Jeder kennt die großen historischen Momente in der Geschichte: vom Krieg gegen die Spanische Armada, vom Widerstand gegen Napoleon, von der mutigen nationalen Selbstbehauptung im Kampf gegen Hitler. Die Briten gewannen daraus Selbstvertrauen, ohne in einen ungesunden Nationalismus zu verfallen.

Jochen Buchsteiner, Auslandsredakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, hat darüber ein Buch geschrieben. Es ist prägnant geschrieben, bietet trotz seiner nur 144 Seiten eine Fülle von Einsichten und ist imstande, auch diejenigen, die vom Brexit nichts mehr hören wollen, für das Thema neu zu interessieren. Der Autor kennt sich nämlich aus in der britischen und europäischen Geistesgeschichte und demonstriert uns: Es ist nicht zum ersten Mal, dass die Briten die Ordnung Europas herausforderten. Als König Heinrich VIII. vor einem halben Jahrtausend entschied, nur mehr Gott, nicht mehr den Papst in Rom über sich zu respektieren, brach er bereits mit einem in Europa allgemein vorherrschenden Konsens. Und schon damals, so wie heute beim Brexit, griffen sich viele an den Kopf und wollten die Entscheidung nicht verstehen. Im Unterschied zu heute verloren die Kritiker aber damals den Kopf.

Immer schon stand für die Briten fest, dass sie nur Nachbarn des Festlands sind, nicht aber ein Teil von ihm, „dass wir Europa zugeordnet sind, nicht aber ihm angehören“ (Lord Bolingbroke, 1714). Und mehr als zwei Jahrhunderte später prägte Winston Churchill das Bonmot: „Wir gehören zu keinem einzigen Kontinent, sondern zu allen.“

Englischer Eigensinn seit 1215

Buchsteiner geht zurück bis zur Magna Charta von 1215. Sie war für ihn „die erste Demonstration englischen Eigensinns, die anderen als Inspiration diente“, er schließt an an den Cambridge-Historiker Robert Tombs, der in der Unterzeichnung des Dokuments eine Weichenstellung sieht, die Briten und Europäer in verschiedene Richtungen hat gleiten lassen.

Jochen Buchsteiner erzählt uns also nicht nur die Vorgeschichte des Brexit, sondern eine umfassende Geschichte von Anziehung und Abstoßung. Indem er das „Anderssein“ der Briten analysiert, wird klar: Der Autor sieht die Brexit-Entscheidung nicht als irrational-verrückte Laune und Ergebnis populistischer Hysterie, mit der die Briten ihren Ruf als vernünftige und pragmatische Nation verspielten. Vielmehr sollte dieser heilsame Schock die EU voranbringen: „Der britische Eigensinn hätte dann Europa ein weiteres Mal vorangebracht. Vielleicht mussten die Briten ja gehen, um eines Tages richtig dazuzugehören.“

Jochen Buchsteiner
„Die Flucht der Briten aus der europäischen Utopie“
Rowohlt Verlag
144 Seiten, 16 €

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.09.2018)

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