Beten verboten, zum Hitlergruß verpflichtet

INTERVIEW: 101-JAeHRIGE PAULA LICHTSCHEIDL
INTERVIEW: 101-JAeHRIGE PAULA LICHTSCHEIDLAPA/CHRISTOPH MIEHL
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Zeitzeugin Paula Lichtscheidl aus Eisenstadt ist älter als die Republik. Die 101-Jährige arbeitete während der NS-Diktatur in Berchtesgaden als Lehrerin - und überlebte die Bomben auf den Obersalzberg.

Als Paula Lichtscheidl am 23. September 1917 in Eisenstadt zur Welt kam, tobte der Erste Weltkrieg. Inzwischen blickt sie auf 101 Lebensjahre zurück und ist damit älter als die Republik Österreich. Im Zweiten Weltkrieg arbeitete sie als Volksschullehrerin im bayerischen Berchtesgaden. 1945 erlebte sie den Bombenangriff der Alliierten zur Zerstörung von Hitlers "Berghof" am Obersalzberg mit.

Die rüstige Pensionistin erinnert sich an ihre Kindheit. "Die Pfarrgasse, das war unser Spielplatz." Als sie geboren wurde, habe es in Eisenstadt noch kein Auto gegeben. Die Nachbarn habe man damals alle gekannt. "Die Straße hat uns gehört, wir haben draußen Ball gespielt, wir haben Nachlaufen gespielt. Und bei allen Nachbarn sind wir drinnen gewesen. Ich war dauernd unterwegs."

Lehrerumschulung zum "Hitler Kennenlernen"

Nach der Volks- und Hauptschule besuchte Lichtscheidl das damalige Lehrerseminar für Frauen in Steinberg im Mittelburgenland. Nach Abschluss der Ausbildung seien im Burgenland offene Stellen für Volksschullehrerinnen rar gewesen. Deshalb habe sie sich gemeinsam mit einer Freundin, die ihr den Tipp dazu gab, in München zum Schuldienst gemeldet.

In Deutschland waren bereits seit 1933 die Nationalsozialisten an der Macht. "Da haben wir 'Umschulung' gehabt - also 'Hitler kennenlernen'", beschrieb Lichtscheidl ihren ersten Kontakt mit dem Schulwesen in der NS-Diktatur. Im September 1938, nachdem Österreich bereits durch den "Anschluss" dem Deutschen Reich einverleibt worden war, konnte sie als Lehrerin in Traunstein in Bayern zu arbeiten beginnen und unterrichtete in der ersten Klasse.

Dass sie sich während eines Aufenthalts im Burgenland auf Anraten ihres Vaters um einen Posten in der Heimat bewarb - in Mörbisch war gerade eine Stelle frei geworden - brachte ihr in Bayern eine Strafversetzung ein. Von ihrem neuen Schulleiter wurde sie mit den Worten begrüßt: "Was? Eine Frau kommt überhaupt nicht infrage - ich brauche einen Lehrer und keine Frau".

"Ich bin nicht gegangen - zum Hitler schon gar nicht"

Als Aushilfslehrerin ohne Fixanstellung, die es zu dieser Zeit in der Regel erst nach zwei Jahren gegeben habe, wurde sie bald erneut versetzt - nach Berchtesgaden. Dort unterrichtete sie anfangs die erste Klasse Volksschule und fand vorübergehend bei einer Kollegin in Königssee eine Bleibe. Bei Berchtesgaden befindet sich der Obersalzberg, wo sich damals oft Adolf Hitler und andere aus der Führungsriege der NS-Diktatur aufhielten. (Inzwischen gehört der Ortsteil Obersalzberg zum Markt Berchtesgaden, Anm.) Das Gelände im Bereich des Obersalzberges mit dem "Berghof" war ab 1933 zum "Führersperrgebiet" erklärt worden, das ohne besondere Genehmigung nicht mehr betreten werden durfte.

In Berchtesgaden habe sie zunächst auch einige Kinder vom Obersalzberg unterrichtet. Unter ihnen seien eine Tochter und ein Sohn von Julius Streicher sowie Kinder von Hitlers Vertrautem Martin Bormann gewesen. Am Obersalzberg habe es damals keine eigene Schule gegeben. Diese sei erst später eingerichtet worden. "Da wollten sie mich hinaufholen, ich bin aber nicht gegangen - und zum Hitler schon gar nicht."

Kinoausflüge auf den Obersalzberg

In Bayern habe man damals nicht mit "Heil Hitler" gegrüßt, sondern "nur Grüß Gott" gesagt, erinnerte sich Lichtscheidl. In der Schule hingegen habe man nicht "Grüß Gott" sagen - und auch nicht beten dürfen: "Der Schulleiter war ja durch und durch Nazi. Die Lehrerin, die vor mir in Berchtesgaden war, ist versetzt worden, weil sie mit den Kindern in die Kirche gegangen ist. Und die sind heimgekommen und haben es erzählt."

Die 101-jährige pensionierte Lehrerin Paula Lichtscheidl ist älter als die Republik.
Die 101-jährige pensionierte Lehrerin Paula Lichtscheidl ist älter als die Republik.APA/CHRISTOPH MIEHL

Einmal habe sie am Obersalzberg, wo sich in dem nach Hitlers Vorstellungen errichteten Gebäudekomplex auch ein eigener Kinosaal befand, zu einer Filmvorführung gehen wollen. Eine Bekannte habe ihr damals gesagt, sie solle mit ihr mitgehen, "sie hat eh zwei Ausweise". Doch der Versuch blieb nicht unbemerkt, und Lichtscheidl wurde zur Gestapo gerufen. Schließlich habe sie einen eigenen Kino-Ausweis erhalten. Zur Nazi-Prominenz im Berghof habe sie aber "keine Verbindung gehabt", betont Lichtscheidl.

Bombenangriff im Forsthaus überstanden

Schließlich übernahm Lichtscheidl im nahen Oberau die Oberstufe der mit acht Stufen zweiklassig geführten Volksschule. Dort erlebte sie im März 1945 jenen massiven Bombenangriff mit, bei dem Flugzeuge der Alliierten die Einrichtungen der NS-Führung am nahen Obersalzberg schwer beschädigten.

Den ersten Alarm habe sie im Schulhaus erlebt und die meisten Schüler sofort nach Hause geschickt. "Ein paar, die zu weit gehabt haben, die habe ich in den Keller mitgenommen." Als ein weiterer Angriff begann, habe sie sich im Forsthaus befunden, das wie durch ein Wunder verschont geblieben sei: "Rings herum war alles abrasiert, aber das Haus wurde nicht beschädigt", erzählt Lichtscheidl. "Das war ein Glück, dass ich das überhaupt überlebt habe." Der Obersalzberg selbst wurde durch das Bombardement schwer in Mitleidenschaft gezogen.

"Ich war jung und konnte das"

Nach Kriegsende war Österreich in Besatzungszonen der Alliierten unterteilt. Weil im Burgenland, das in der Sowjetzone lag, die Russen gewesen seien, sei sie anfangs noch in Bayern geblieben. Mit einem Transport ging es schließlich zusammen mit einer Freundin ins steirische Hartberg, erzählt Lichtscheidl.

Nun musste sie noch die Zonengrenze passieren. In einer siebenköpfige Gruppe, angeführt von einem Ortskundigen, sei man die ganze Nacht unterwegs nach Aspang gewesen. "In der Früh um fünf Uhr kommt auf einmal ein russischer Reiter, sagt: 'Stopp' und hält uns das Gewehr an." Der Führer der Gruppe habe dann mit dem Rotarmisten verhandelt: "Ich habe nur gesehen, er hat mit dem Russen gesprochen und hat ihm etwas gegeben. Dann hat er gesagt, wir können weitergehen."

Danach fuhr sie mit der Bahn nach Wiener Neustadt und weiter nach Ebenfurth. Das letzte Stück nach Eisenstadt ging Lichtscheidl zu Fuß: "Ich hatte Glück, dass ich keinem Russen begegnet bin." So kam sie schließlich nach Hause: "Eine Strapaze war es schon - aber ich war noch jung und konnte das." Sportlich sei sie schließlich gewesen: "Ich habe alle Geräte geturnt", sie habe einem Sportverein angehört und sei Ski und mit dem Rad gefahren und Bergsteigen gegangen.

Mann war in Gefangenschaft

Nach dem Krieg bekam Lichtscheidl eine Stelle als Volksschullehrerin in Eisenstadt. In der vierten Klasse habe sie damals bis zur Teilung 54 Kinder gehabt. Mit 29 Jahren hatte sie geheiratet, ihr Mann war selbst Schuldirektor. Bis knapp vor ihrem 60. Geburtstag blieb Lichtscheidl im Schuldienst, dann ging sie in Pension.

"Wir sind lauter Eisenstädter", blätterte sie in ihrem Ahnenpass, den sie während des NS-Regimes in Bayern benötigt hatte. Ihr Mann sei vom Zweiten Weltkrieg, während dem er an Gelbsucht erkrankte, und von der Gefangenschaft schwer gezeichnet gewesen. Als er mit 80 Jahren starb, war sie 73.

Computer "fange ich gar nicht an. Wozu?"

In der Pension habe sie viele Ausflüge gemacht - anfangs noch mit ihrem Mann und später mit den Kindern. Zu den Zielen gehörten etwa Paris, Italien, die USA sowie die Inseln Mauritius und La Réunion. Auch mit einer Gruppe von früheren Kolleginnen habe sie sich jede Woche in einem Kaffeehaus getroffen: "Die Kolleginnen sind leider schon alle gestorben."

Gefragt nach einer besonders schönen Zeit in ihrem Leben, erinnert sich Lichtscheidl an ihre Hochzeit und die Geburt ihres Sohnes, aber auch an schöne Reisen. "Ich war gerne Lehrerin" - auch, wenn der Vater eigentlich dafür gewesen sei, dass sie zu Hause bleibe.

Computer habe sie keinen, erzählt die Pensionistin: "So etwas fange ich gar nicht an. Wozu? Ich brauche es ja nicht." Auch ein Handy habe sie abgelehnt. Sie habe Telefon und Fernseher. Auch das Fotografieren habe sie mittlerweile aufgegeben. Eine andere Routine hat sie dafür beibehalten: "Am Freitag hole ich immer zwei Rätselhefte."

(APA)

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