Kriegsgefangene Offiziere betrieben in Allentsteig "Exzellenzuni"

Die Presse
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5000 französische Offiziere gründeten in ihrer Kriegsgefangenschaft im Lager Edelbach ein "Centre d'études". Die "Lageruni" wurde von Top-Mathematiker Jean Leray geführt.

Von 1940 bis 1945 gab es in Allentsteig in Niederösterreich das Kriegsgefangenenlager Edelbach, 5000 französische Offiziere waren dort interniert. Es war kalt, gab wenig zu essen und zu tun. Im Kampf gegen die Monotonie des Lageralltags richteten die Offiziere eine Uni ein - und schufen damit im Waldviertel eine wahre "Exzellenzuniversität" hinter Stacheldraht, wie der Mathematiker Karl Sigmund es beschreibt.

Das Lager ist gut erforscht, nicht nur vom niederösterreichischen Archäologen Franz Pieler, auch vom Historiker Andreas Kusternig, erzählt Sigmund. Er hält am Donnerstag unter dem Titel "Mathematik hinter dem Stacheldraht" einen Vortrag über das Oflag (für Offizierslager) XVIIA, auch "Klein Sibirien" genannt.

1200 Kriegsgefangene begannen Studium

Auf weniger als einem halben Quadratkilometer, hinter zwei Stacheldrahtzäunen, waren die Tausenden französischen sowie 170 polnische Offiziere in rund zwei Dutzend Baracken eingepfercht. Durch die Genfer Konvention waren die Gefangenen vor Zwangsarbeit geschützt, sie konnten sich mit Theater und Kino, Sport, Musik oder der Herausgabe einer Lagerzeitung beschäftigen.

Um eine Zukunftsperspektive zu haben, gründete eine Handvoll Wissenschafter schließlich auch ein "Centre d'études" (Studienzentrum), später wurde es zur "Université en captivité" (Universität in Gefangenschaft) ausgebaut. Rund 1200 der insgesamt 5000 französischen Internierten besuchte Kurse der Lageruni, knapp die Hälfte davon schloss ihr Studium ab.

"Fachhochschul-ähnliche Angebote" im Lager

Das Angebot im Lager Edelbach reichte von Mathematik über Embryologie und Geologie bis zu Arabistik und Byzantinistik, Armeepriester hielten Theologie-Vorlesungen. Die Studenten beschäftigten sich, eingepfercht auf engstem Raum, aber auch mit Themen wie Hausbau oder Pferdezucht. "Das waren schon fast Fachhochschul-ähnliche Angebote", meint Sigmund.

Die Studienbedingungen dürften - trotz ständiger Kälte und wenig Verpflegung - relativ gut gewesen sein: Die Uni konnte eine der Baracken nutzen, in der drei Vorlesungen parallel abgehalten wurden. Ruhig ging es dort freilich nicht zu, immerhin habe es in dem kleinen Raum stets gewimmelt von Leuten, wie Sigmund betonte. Die Studierenden seien trotzdem ganz bei der Sache gewesen: "Es war ja ansonsten kaum etwas zu tun. Es wurden auch Prüfungen gemacht und mindestens 500 dieser Studiengänge sind dann auch in Frankreich anerkannt worden. Und zwar nicht aus Mitleid."

Das Lehrmaterial kam erst im Lauf der Zeit durch Austausch mit deutschen Wissenschaftern zusammen. Alle paar Wochen kamen außerdem Pakete aus Frankreich. "Da war oft genug eine Wurst dabei, manchmal aber auch ein Buch."

Mathematiker Leray leitete Studienzentrum

Geleitet wurde die Uni von einer Handvoll Wissenschaftlern. An ihrer Spitze: der 34-jährige, schon damals hochdekorierte Mathematiker Jean Leray. Für die Interessen der Uni setzte sich der Forscher, der auch ganz gut Deutsch konnte, laut Sigmund mit Nachdruck ein. Ein heimlich aufgenommenes Bild zeigt Leray bei einem Sitzstreik auf dem Lagerhauptplatz mit einem deutschen Bewacher.

Leray war aber auch eine wissenschaftliche Instanz im Lager: Vor seiner Internierung war er trotz seines jungen Alters bereits Professor in Nancy. Sein Spezialgebiet war eigentlich Hydrodynamik. Damit die Deutschen aber gar nicht erst auf die Idee kommen würden, seine Forschungsergebnisse praktisch zu nutzen (etwa beim Entwerfen von U-Booten), verlegte er sich auf ein Thema ohne praktischen Anwendbarkeit: algebraische Topologie. Bis dahin habe er daran nur sekundäre Interessen gehabt, schildert Sigmund. Und doch sollte Leray auf diesem Gebiet seine wichtigsten wissenschaftlichen Arbeiten schreiben.

Noch während er in Edelbach einsaß, wurde er als Zeichen der Anerkennung von der Sorbonne zum Professor ernannt. Junge Forscher griffen seine Ideen mit Begeisterung auf. Das Gebiet habe sich in den späten 1940er-Jahren "fantastisch entwickelt", erzählt Sigmund. Und auch wenn sich Lerays Theorien rasch als überholt erwiesen, hat sich die von ihm angestoßene algebraische Topologie rasch zu einem der wichtigsten mathematischen Fächer der Gegenwart entwickelt.

"Er war halb verhungert"

Noch zwei weitere prominente Namen finden sich auf der Namensliste des Lagers: Der Entwicklungsbiologe Etienne Wolff, der laut Sigmund später Mitglied der Académie des Sciences und - für seine Leistungen als Sachbuchautor - der Académie française wurde. Im Oflag XVIIA hielt er Vorlesungen über Themen wie Zellteilung. Sonst vermied er es allerdings aufzufallen. Wolff war jüdischer Abstammung, als Mitglied der Unileitung herauszuragen wäre dann doch zu gefährlich gewesen, so Sigmund.

Auch der angesehene Geologe Francois Ellenberger trieb in Edelbach seine wissenschaftlichen Arbeiten voran: Er richtete ein geologisches Labor ein, in dem er Steine untersuchte, die er auf dem 500.000 Quadratmeter großen Areal zusammengetragen hatte. Die nahm Ellenberger sogar mit, als sich die Offiziere aus dem Oflag XVIIA nach Auflassung des Lagers in den letzten Kriegstagen zu einem zehntägigen Marsch Richtung Linz aufmachten. "Zehn Kilo dieser Steine hat er aus Allentsteig nach Frankreich mitgeschleppt!", erzählte Sigmund. "Er war halb verhungert, aber daran hat er sich festgeklammert."

Bei der Veranstaltung an der Mathematik-Fakultät wird neben der "Université en captivité" auch ein 2012 in Österreich und Frankreich entstandener Film über das Lager vorgeführt, der neben Interviews mit ehemaligen Insassen auch heimlich gedrehte Filmaufnahmen der Offiziere zeigt, darunter die Vorbereitungen auf die größte Massenflucht aus einem Kriegsgefangenenlager. 132 Offiziere konnten damals durch einen engen Tunnel, belüftet mit einem Rohr aus alten Konservendosen, aus dem Lager fliehen. Allerdings wurden die meisten bald wieder eingefangen, nur 14 Männer konnten entkommen.

(APA)

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