1999 - das eigentliche Wendejahr

„Things Can Only Get Better“: Am Times Square wurde der Jahreswechsel 1999/2000 ausgelassen gefeiert. Nur wenige Wochen später platzte an den US-Börsen die Dotcom-Spekulationsblase.
„Things Can Only Get Better“: Am Times Square wurde der Jahreswechsel 1999/2000 ausgelassen gefeiert. Nur wenige Wochen später platzte an den US-Börsen die Dotcom-Spekulationsblase. (c) NY Daily News via Getty Images (New York Daily News Archive)
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Nach dem Kollaps des Ostblocks schien die Hoffnung auf Frieden und Wohlstand für alle nicht naiv, sondern berechtigt. Doch während die Welt der Jahrtausendwende entgegenfieberte, wurden im Jahr 1999 die Weichen für die Rückkehr längst überwunden geglaubter Krisen und Konflikte gestellt.

Für den Silvester 1999/2000 hatten sich Air France und British Airways etwas Besonderes einfallen lassen. Am 1. Jänner 2000, 14 Minuten nach Mitternacht, hob in Paris eine Concorde ab, flog mit zweifacher Schallgeschwindigkeit über den Atlantik und landete um 21.59 Uhr Ortszeit in New York – gerade rechtzeitig, um mitzuerleben, wie über dem Times Square die Kristallkugel niederging, die den Wechsel ins neue Jahr markierte. Der Spaß kostete umgerechnet knapp 9000 Euro. Ein mehr als angemessener Preis für diejenigen, die die Ankunft des neuen Millenniums gebührend begrüßen wollten, dachte man sich in den Zentralen der beiden Concorde-Betreiber.

Ob dieses Silvester-Angebot eine Nachfrage gefunden hat, ist nicht überliefert. Auf dem Times Square, im Hafen von Sydney, vor dem Londoner Big Ben, in der Avenue des Champs-Élysées, auf dem Petersplatz in Rom und vor dem Brandenburger Tor wurde jedenfalls der Abschied vom 20. Jahrhundert ausgiebig gefeiert. Aus der rein mathematischen Perspektive betrachtet fand die große Zeitenwende nicht 1999/2000, sondern erst ein Jahr später statt. Doch angesichts der magischen Jahreszahl mit dem dicken Zweier und den drei runden Nullen wollte sich niemand die große Party versauen lassen – nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass dieser Jahreswechsel vom Schreckgespenst des Millennium Bug begleitet wurde. Das Artefakt aus der grauen Vorzeit der Computer, auch Y2K genannt, drohte aufgrund fehlerhaften Datums die Rechner rund um den Globus lahmzulegen.

Auszeit von der Geopolitik. Um zu vermeiden, dass Kernkraftwerke außer Kontrolle geraten und Flugzeuge vom Himmel stürzen, investierte man im Laufe der 1990er-Jahre einen dreistelligen Milliardenbetrag, um den Softwarefehler zu beheben – mit Erfolg. Als die digitalen Jahreszähler um Mitternacht von 99 auf 00 sprangen, gab es keine Katastrophen, sondern lediglich Ärgernisse: blockierte Bankomaten in Italien, falsch datierte Geburtsurkunden in Großbritannien, ein Ausfall des elektronischen Handelssystems an der Wertpapierbörse in Islamabad. Die Vorfälle waren klein und dünn gesät.

Der Sieg über den Millennium Bug war das passende Fanal für das Ende einer Ära der heißen und kalten Kriege. Nach den Kataklysmen des 20. Jahrhunderts und dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus 1989 schien der blutige Wettlauf der Ideologien definitiv zu Ende zu sein – und der Westen gönnte sich eine zehnjährige Auszeit von den Wirren der Geopolitik. Freie Wahlen, freie Märkte, offene Grenzen und weltumspannende Informationsnetzwerke galten in den 1990er-Jahren als alternativlos. Dass die Demokratie auch in China Einzug halten würde, war demnach nur eine Frage der Zeit. Der Beitritt der Volksrepublik zur Welthandelsorganisation WTO, der im Herbst 1999 besiegelt wurde, verlieh der Globalisierung einen zusätzlichen Schub – eine ähnliche Dynamik setzte in Europa der Euro in Gang, der am 1. Jänner 1999 als Buchgeld eingeführt wurde.

Politisch stand 1999 ganz im Zeichen des „Dritten Weges“ – der Überwindung des alten Links-Rechts-Schemas, die in den USA von Bill Clinton, in Großbritannien von Tony Blair und in Deutschland von Gerhard Schröder verkörpert wurde. Die neuen Staatenlenker sahen Gesellschaftspolitik als Fortsetzung der Marktwirtschaft mit anderen Mitteln und verkörperten das Versprechen einer postideologischen Zukunft. Es war kein Zufall, dass Blairs Labour Party den Eurodance-Hit „Things Can Only Get Better“ der Band D:Ream zu ihrer offiziellen Wahlhymne auserkoren hatte. Ende der 1990er-Jahre waren Weltfrieden und Wohlstand für alle kein Wunschtraum, sondern ein realistisches Ziel.

Countdown für 9/11. Doch während die Welt der Jahrtausendwende entgegenfieberte, wurden im Hintergrund die Weichen für die Rückkehr längst überwunden geglaubter Krisen und Konflikte gestellt. In einer Höhle in Ostafghanistan startete Osama bin Laden, der Chef des islamistischen Terrornetzwerks al-Qaida, im Herbst 1999 die Vorbereitungen zu einer Serie spektakulärer Flugzeuganschläge auf wichtige Gebäude in den USA. Zu diesem Zeitpunkt war die russische Armee auf dem Vormarsch in Richtung der tschetschenischen Hauptstadt Grosny – und Wladimir Putin, ein farbloser ehemaliger KGB-Offizier, seit dem Sommer als Premier von Boris Jelzins Gnaden, auf dem Weg zum Kreml. Der 47-jährige, bis dato stets im Hintergrund agierende Mechaniker der Macht löste den siechenden Präsidenten Russlands pünktlich zum Jahreswechsel ab.

In den USA wiederum stand alles im Zeichen der Wirtschaft: In Washington wurden 1999 jene Gesetze gekippt, die während der Großen Depression der 1930er-Jahre eingeführt worden waren, um eine Wiederkehr der Finanzkrise zu verhindern. Die entfesselten US-Banken machten sich unverzüglich daran, die Spekulation mit Immobilien zu finanzieren.

Generation Gratis-Download. Neben der alten Finanzwirtschaft boomte auch die New Economy. Während an der New Yorker Börse die Kurse der jungen Internetunternehmen immer lichtere Höhen erklommen, machten sich in Kalifornien zwei Teenager – Shawn Fanning und Sean Parker – daran, das Zeitalter der Downloads einzuläuten. Ihre Musiktauschbörse Napster brachte einer ganzen Generation bei, dass für Inhalte im Internet nichts bezahlt werden musste.

Nach zahlreichen Klagen der um ihre Einnahmen betrogenen Musiker und Plattenfirmen wurde Napster 2001 eingestellt, doch zu diesem Zeitpunkt war der Geist der Gratismentalität bereits aus der Flasche – und Sean Parker hatte genug Zeit und Geld, um nach der nächsten Online-Sensation Ausschau zu halten. 2004 lief ihm schließlich der Harvard-Student Mark Zuckerberg über den Weg, der auf seiner Uni soeben eine Website namens Facebook gestartet hatte. Parker stieg bei dem neu gegründeten Unternehmen ein. Der Rest ist Internet-Geschichte.

Nach dem Platzen der Dotcom-Blase 2000, der US-Immobilienblase 2007, der Eurokrise von 2009, den islamistischen Terroranschlägen in New York, Paris, London, Madrid und Berlin, den Endloskriegen im Nahen Osten, dem Wiederaufflammen des Ost-West-Konflikts nach der Annexion der Krim durch Russland und der Welle der Fake News und Hasspostings, die durch die sozialen Netzwerke rollt, dem Aufstieg von Donald Trump und dem Abschied Großbritanniens von der EU erscheint die Jahrtausendwende wie das Ende einer kurzen Symphonie der Zuversicht – mit dem frivolen Silvesterflug der Concorde als Schlussakkord.

Die Concorde konnte zwar die Zeitzonen sprengen, doch am Ende war sie nicht schnell genug, um ihrem Schicksal davonzufliegen. Am 25. Juli 2000 stürzte eine voll besetzte Maschine auf dem Flug nach New York kurz nach dem Start in Paris ab. Beim Abheben wurde der Treibstofftank durchlöchert und in Brand gesetzt. Die einstige Zukunft der zivilen Luftfahrt verwandelte sich in einen Feuerball, es gab keine Überlebenden. Kurze Zeit später wurde die Concorde aus dem Flugverkehr gezogen. Und wir leben seither im Schatten von 1999.

Buchtipp

„Das letzte Jahr der Zukunft. Wie 1999 die Welt veränderte“
von Michael Laczynski ist soeben bei Residenz Verlag erschienen (192 Seiten, 22 Euro).

Lesung. Am kommenden Freitag (26. April, 22 Uhr) liest Laczynski im Rahmen des Wiener Literaturfestivals „Rund um die Burg“ aus dem Buch. (www.rundumdieburg.at)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.04.2019)

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