Spielen in der Überzeit

Wesentlich: Alexander Widners Notate über Zeit und Welt. Da lebt einer in Klagenfurt (und längere Zeit auch in New York) und sein ungetrübter Blick ist gleichermaßen wie durch eine Auslagenscheibe auf die Welt fixiert.

Da lebt einer in Klagenfurt (und längere Zeit auch in New York) und sein ungetrübter Blick ist gleichermaßen wie durch eine Auslagenscheibe auf die Welt fixiert. Dabei notiert er, was ihm auffällt oder einfällt, und da er das schon lange macht, schildert er damit nicht, was ist, sondern wie es geworden, wie es werden und naturgemäß, wie es vergehen wird.

Alexander Widners Band mit neuen Aufzeichnungen (von 2007 bis 2011) fügt sich zu den bisher erschienenen, die insgesamt eine beeindruckende Sammlung ergeben. Widner fokussiert sich in diesen Texten zwar großteils auf die Form des Aphorismus, jedoch ist nichts Glänzenwollendes, Besserwissendes, Guruhaftes, Sprachspielendes (aber stets etwas Spielerisches!) darin. Ohne anderen Meistern dieser Form allzu verpflichtet zu sein, fügen sich bei ihm die Notate in oft klarster Konzentration zu originären Denkbildern, entstanden mittels blitzartiger und genau durchdachter Anschauung.

Dabei kann es um die großen genauso wie um die alltäglichen Dinge (die sich günstigstenfalls auch treffen können) gehen. So hört er von seinem Brooklyner Hochsitz aus „das Gekrächze von Österreichs Staatskonsorten – die das kleine Land in ein Warenhaus drehen, bewusstlos und traumhäuptig sicher“ ebenso wie er Straßenszenen in New York und Klagenfurt beschreibt. Bei der Lektüre seiner Gewährsleute wie Cioran, Voltaire, Montesquieu (nichts Vergleichbares in unseren Gefilden!) kann er schon einmal zum Schluss zu kommen: „Es ist erstaunlich, dass die ganze Philosophie aus diesen vier Wörtern besteht: Das ist mir egal.“

Umgang pflegen mit der Sau

Der Umgang mit dem Werk von Canetti wird ihm da zur „Plage mit Menschen, die sich schonen, betulichen Umgang pflegen mit der Sau in sich“. Immerhin ist er stets bereit, sich nicht zu schonen. Aber, so formuliert der sich höchstens einen „Selbstpolitiker“ nennenden: „Jeder ist so viel Despot, als er Diener findet“.

Schließlich geht es in diesen die Dinge klar registrierenden, sehr oft ärgerlichen, manchmal im heiligen Zorn verfassten, doch immer wieder auch beinahe gelassenen Aufzeichnungen um nichts weniger als um Leben und Tod – und die Zeit. Letztlich sei jeder damit beschäftigt, sich zu vertrödeln, zu verpuffen. Und im Wissen, ja in der Gewissheit um die Vergeblichkeit, veranstalten wir „Seminare für das Anwerfen von Leistungen des Autismus. Marathonlauf, Triathlon, Schreiben, Malen und noch. Versuche, Kontinuitäten herzustellen: die bewusstlose Angst vor dem Ende, die Scheu vor dem Nichtstun, Nichtlaufen, Nichtschreiben, dem Streichen auf null, dem Sich-Wegdrehen. Vor dem Einlösen der Vergeblichkeit.“

Dem Dichter ist zuletzt „die Zeit, als es selbstverständlich war, dass ich lebe“, um, er spiele, so meint er, „schon in der Überzeit“. Aber irgendwann ist sowieso „genug gehört, genug gehorcht, genug geschaut, genug gesehen, genug von allem, genug“. Es ist mehr als kluges Räsonieren, das Widners Texte, Notate, Beschreibungen wesentlich machen – es sind schonungslose, klare Echos des Einzelnen auf seine Welt (der gleichwohl das „Wir“ und „Uns“ und „Du“ wie das „Ich“ verwendet). ■




Alexander Widner

Gravesend

Aufzeichnungen 2007 bis 2010. 150S., brosch., €18,80 (Wieser Verlag, Klagenfurt)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.06.2012)

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