EU-Gipfel: Aufstand im Club Med

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EUGipfel Aufstand Club(c) EPA (ALESSANDRO DI MEO)
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Deutschland stand auf dem Brüsseler EU-Gipfel plötzlich vor einer Allianz der Franzosen, Italiener und Spanier. Spurensuche einer mitternächtlichen Erpressung mit bleibenden Folgen für Europa.

Donnerstagabend, 20.30 Uhr, Europäischer Rat Brüssel: Seit mehr als einer halben Stunde lässt die Kanzlerin auf sich warten. Plangemäß hatte sie während des EU-Gipfeltreffens zu einer kurzen Pressekonferenz geladen; Das Abnicken einiger blumiger Erklärungen unter den Schlagworten „Wachstum und Arbeitsplätze“ sollte noch rechtzeitig für die Abendausgaben der internationalen Zeitungen mit einigen zuversichtlichen Worten Angela Merkels umkränzt werden.

Doch Merkel kommt nicht. Und als ihre Sprecher die rund 1800 akkreditierten Medienvertreter per SMS darüber unterrichten, dass die Pressekonferenz abgeblasen sei, ahnt es auch der Letzte: Irgendetwas läuft hier ganz, ganz schief. Und zwar besonders für die Deutschen.

Denn eigentlich hätte dieses 19. EU-Gipfeltreffen seit Ausbruch der Eurokrise eine Routineübung werden sollen. Zumindest sah man das in Berlin so. Dort, im Bundeskanzleramt an der Spree, gaben Merkels Berater schon am Vortag des Gipfels eine klare Botschaft aus: „Konkrete Arbeitsaufträge mit klaren Zeitleisten“ wolle man in Brüssel fixieren, die Debatte über den Umbau der Wirtschafts- und Währungsunion in einen geordneten Rahmen setzen, keine Luftschlösser versprechen, sondern saubere Fundamente setzen. Den Vorwurf, Deutschland sei nicht solidarisch mit den im Sperrfeuer der Finanzinvestoren leidenden Italienern und Spaniern, weist man in Merkels Entourage kühl zurück: „Deutschland ist bisher schon Garantien und Zahlungen im Umfang von fast einem ganzen Bundeshaushalt eingegangen.“

Und dann folgt eine jener Belehrungen, die man in den Mittelmeerländern, von Lissabon bis Larnaka, so gar nicht gerne hört: „Die Probleme sind im Kern hausgemacht. Daher können sie nur zu Hause gelöst werden.“

Es ist ein schöner Juni in Berlin. In Sichtweite des Kanzleramtes taumelt man schwarz-rot-gold gewandet durch ein neues Sommermärchen. Die deutsche Fußballelf wirkt beim Turnier in Polen und der Ukraine so unbezwingbar wie die deutsche Kanzlerin beim Machtkampf in Brüssel. Ein bisschen etwas von dieser fußballerischen Euphorie mag auf das deutsche Regierungsteam abfärben, vielleicht gar zu viel. Überlegenheit kann schnell in Überheblichkeit kippen. Auf viele Südeuropäer wirkt Merkel, wirken die Deutschen so: abgehoben, überheblich. Und noch etwas schwingt mit. Etwas, das man fast sieben Jahrzehnte nach Kriegsende für überwunden glaubte. Etwas, das hochkommt, wenn der kluge Korrespondent einer italienischen Qualitätszeitung harmlose Plaudereien über Fußballspiele mit dem Hinweis abwürgt, seine beiden Großväter seien von den Nazis erschossen worden.

Doch etwas ist neu. Europas Süden reicht seit 6. Mai bis an die Nordsee. Nach der Abwahl von Nicolas Sarkozy als Staatspräsident Frankreichs residiert im Pariser Palais de l'Élysée wieder ein treuer Bundesgenosse der Italiener, Spanier, Portugiesen und Griechen. Der Sozialist François Hollande hält nichts von der Abtretung nationaler Haushaltsbefugnisse an eine europäische Kontrollinstanz. Für ihn zählt das Primat der Politik, will heißen: der nationalstaatlichen Regierungen. Von einem „Europa der Vaterländer“, wie Charles de Gaulle es formulierte, spricht er nicht. Doch seine Linie ist klar: Ein französischer Staatspräsident lässt sich von niemandem Vorschriften darüber machen, wie er seinen Haushalt zu führen hat. Punkt.

Doch es gibt noch einen prosaischen Grund dafür, dass sich Hollande auf die Seite von Mario Monti und Mariano Rajoy schlägt: Frankreichs Banken stecken bis über die Ohren im italienischen und spanischen Schlamassel. Laut der Bank für internationalen Zahlungsausgleich – der „Zentralbank der Zentralbanken“ – sind die französischen Kreditinstitute so stark in Italien investiert wie niemand anderer. Per Ende 2011 hatten BNP Paribas, Société Générale und Konsorten in Italien fast 300 Milliarden Euro an Forderungen ausstehen. In Spanien sind Frankreichs Banken die Nummer zwei hinter den deutschen. Wenn Rom und Madrid unter dem Druck der Märkte fallen, gehen in Paris die Lichter aus.


Die Erpressung. Und darum springt Hollande am Donnerstagabend in Brüssel der deutschen Kanzlerin nicht zur Seite, als Monti und Rajoy plötzlich zu Erpressern werden: Ohne deutsches Zugeständnis für direkte Hilfszahlungen an Spaniens Banken und eine Unterstützung der italienischen Schuldenaufnahme durch die Eurorettungsvehikel verweigern der Italiener und der Spanier ihre Zustimmung zum 120 Milliarden Euro umfassenden „Pakt für Wachstum und Arbeitsplätze“. Denn sie wissen: Merkel braucht diesen Pakt. Andernfalls verweigert ihr die Opposition im Bundestag die Zustimmung zum neuen Eurowährungsfonds ESM und zu den disziplinierenden Haushaltsregeln des EU-Fiskalpaktes. Und spätestens dann brennt der Hut, ist Panik an den Märkten und ein Aufstand der Europagegner zu erwarten. Das würde nicht nur in Italien „politische Kräfte“ freisetzen, die die europäische Integration und den Euro „zur Hölle fahren lassen“, hatte Monti schon vor dem Gipfel gewarnt.

Angela Merkel, die Totengräberin des Euro? Darauf will es die Kanzlerin nicht ankommen lassen. Und während zeitgleich im Warschauer Nationalstadion die Deutschen vom italienischen Mittelstürmer Mario Balotelli aus ihren Sommermärchenträumen geschossen werden, gibt Merkel in einem bis fast fünf Uhr morgens dauernden Ringen nach: Spaniens Banken bekommen direkte Eurohilfsmittel und Italien darf darauf hoffen, als Mittel gegen die hohe Zinslast auf seinen Anleihen unterstützt zu werden.

Was da hinter verschlossenen Türen ablief, darf man sich ziemlich unschön vorstellen. „Wir wollten so weit weg wie möglich von diesem Saal entfernt sein“, sagte ein hoher Diplomat eines Nichteurolandes. Als Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán ebenso wie seine neun Nichteurokollegen um Viertel nach eins das Ratsgebäude verlässt, lässt er sich so erschöpft in die Polsterung seiner Staatskarosse fallen, als sei er einem Hausbrand entkommen. „Schauen Sie, da kommt der bulgarische Premierminister“, unkt ein Diplomat im Kreis der Journalisten, „der kann jetzt ganz ruhig schlafen gehen: Er hat nur 30 Prozent Schuldenquote, und wenn es die EU zerreißt, kann er noch immer eine Freihandelszone mit Russland gründen.“

Am nächsten Morgen wird Mario Monti in den französischen, italienischen und spanischen Zeitungen wie ein Held gefeiert. „Die Nacht, in der der Süden Merkel einknicken ließ“, betitelt der notorisch antideutsche Brüssel-Korrespondent der linksliberalen „Libération“ seinen Bericht. Doch in den Botschaftsdelegationen ist man über den mediterranen Coup schwer besorgt. Ein Diplomat bringt es auf den Punkt: „So etwas konnte Monti genau ein einziges Mal machen. Sein politisches Kapital bei Merkel hat er damit ein für allemal verspielt.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.07.2012)

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