Laut in den USA und Kanada eingebrachter Klagen haben Banken den Libor nach Belieben manipuliert. Notenbanken und Politiker sollen davon gewusst und Kreditnehmer weltweit dafür bezahlt haben.
Wien. An Betrügereien von enormem Ausmaß mangelt es in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte nicht. Man denke nur an den Fall des Vermögensverwalters Bernard Madoff, der Anleger weltweit um 65 Milliarden Dollar erleichtert hat. Umso schwerer fällt es ins Gewicht, wenn das US-Magazin „Time" im Internet titelt: „Der Libor-Skandal: Betrug des Jahrhunderts?"
Der Libor gilt als einer der wichtigsten Zinssätze der Welt. Kosten und Erträge für komplexe Finanzprodukte, aber auch für normale Verbraucherkredite hängen von ihm ab. Es geht um ein Volumen von jährlich mindestens 360.000 Milliarden Dollar (290.000 Mrd. Euro). Das entspricht in etwa der tausendfachen Wirtschaftsleistung Österreichs. Bis zu 18 Großbanken sollen den Libor von 2005 bis 2009 bewusst zu ihren Gunsten manipuliert haben. Mittlerweile untersuchen die Behörden in den USA, Kanada, Europa und Japan. Betroffen sind etwa die Deutsche Bank, UBS, Citigroup, JP Morgan, HSBC und die Bank of America. Bereits verurteilt wurde die britische Barclays. Das Institut bezahlte eine Strafe von 452 Millionen Dollar, und Firmenchef Bob Diamond brachte seinen Rücktritt ein.
Die dubiose Rolle der Notenbanken
Die Verurteilung von Barclays könnte die Lawine erst ins Rollen gebracht haben. Der Skandal hat mittlerweile längst die britische Politik erreicht, und auch die Rolle der US-Zentralbank „Fed" scheint immer fragwürdiger - sie soll von den Manipulationen gewusst haben. Zuvor beschuldigten mehrere Barclays-Manager die Bank of England, den Betrug nicht nur geduldet, sondern bewusst angezettelt zu haben. Montagabend musste deshalb deren Vizegouverneur, Paul Tucker, vor einem Untersuchungsausschuss Rede und Antwort stehen. Dort sagte er, die Bank of England trage keine Verantwortung für den Libor-Satz.
Auf EU-Ebene forderte nun Binnenmarktkommissar Michel Barnier „höhere Strafen" für die unlautere Manipulation von Zinsen, ohne Details zu nennen.
Dass es ein Zinskartell gegeben hat, bei dem sich Banken unerlaubterweise abgesprochen haben, steht praktisch außer Frage. Der Libor-Zinssatz wird aus den durchschnittlichen Refinanzierungskosten von bis zu 18 Instituten errechnet. Jeden Vormittag müssen die Banken bekannt geben, zu welchem Zinssatz sie sich gegenseitig Geld leihen. Bei der Berechnung des Durchschnitts werden die vier höchsten und die vier niedrigsten Werte nicht berücksichtigt. Eine Bank allein kann den Zinssatz also nicht beeinflussen.
Es drohen Tausende von Klagen
Laut in den USA und Kanada eingebrachter Klagen haben die Banken den Libor je nach Belieben nach unten wie nach oben manipuliert. Geben die Institute ihre Refinanzierungskosten zu niedrig an, stellen sie ihre eigene wirtschaftliche Lage besser dar, als sie ist - und polieren damit ihren Ruf als vertrauenswürdige Bank auf. Manipulieren sie die Refinanzierungskosten nach oben, können sie für Kredite höhere Zinsen verlangen. Die Zinsspanne steigt, und die Banken fahren höhere Gewinne ein.
Sollten sich die Vorwürfe als richtig erweisen, betrifft das Millionen Kreditnehmer. Dutzende von ihnen haben in New York Klagen gegen US-Großbanken eingebracht. Die Frage, ob es sich um den „Betrug des Jahrhunderts" handelt, beantwortet „Time" so: „Das wahre Ausmaß muss erst enthüllt werden. Aber es könnte schwierig werden, ein schlimmeres Vergehen zu finden."
("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.07.2012)