Die fehlende Vision von einem inklusiven Schulsystem

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Symbolbild(c) AP (Colin Archer)
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Der Aktionsplan für Behinderte, der kürzlich von der Regierung beschlossen wurde, verfehlt sein Ziel – jedenfalls für den Bereich Schule.

Wien. Als eine „gute Grundlage für die Weiterentwicklung eines inklusiven Bildungssystems“ bezeichnete Unterrichtsministerin Claudia Schmied (SPÖ) den „Nationalen Aktionsplan für Behinderte“ (siehe Factbox), der kürzlich von der Regierung beschlossen wurde. Das 100 Seiten starke Maßnahmenpapier soll die Umsetzung der UN-Behindertenkonvention, die Österreich im Jahr 2008 ratifiziert hat, sicherstellen. Für den Bereich Bildung heißt das: die Einrichtung eines inklusiven Bildungssystems.

Worin die Unterrichtsministerin eine gute Grundlage für eben dieses Ziel erkennen will, offenbart sich im Strategiepapier aber keineswegs. Denn: ein inklusives Schulsystem – also ein Regelschulwesen, in dem Kinder mit und ohne Behinderung grundsätzlich gemeinsam unterrichtet werden, existiert in Österreich bis dato nicht. Die Weiterentwicklung, von der die Ministerin spricht, kann es also per se nicht geben.

Ein grundlegendes Problem des Strategiepapiers besteht darin, dass zwar Inklusion das Ziel sein soll, die für den Bereich Schule formulierten Maßnahmen aber auf Integration abzielen – also ein Einbeziehen der „anderen“. Inklusion hingegen würde bedeuten, alle Kinder als gleichwertig anzusehen und die Schule auf die unterschiedlichen Bedürfnisse auszurichten. Zudem bleibt im Kapitel zur Bildung auch ungeklärt, was überhaupt unter Behinderung verstanden wird. Auf Sinnesbehinderungen – also Beeinträchtigungen der Seh- oder Hörfähigkeit – wird relativ genau eingegangen, nach dem Umgang mit Kindern mit geistigen Behinderungen sucht man im Papier vergeblich.

So werden für Erstere auch sehr konkrete Maßnahmen vorgeschlagen, wie etwa die Erstellung von barrierefreien Unterrichtsmaterialien oder einer bilingualen Datenbank zur Übersetzung der österreichischen Gebärdensprache. In anderen Bereichen beschränken sich die Maßnahmen auf die Weiterentwicklung von Fortbildungsangeboten und Sensibilisierungsmaßnahmen.

Bleibt die Sonderschule?

Dass die Regierung keine Vision von einem inklusiven Schulsystem hat, zeigt sich darin, dass die Sonderschulen im gesamten Strategiepapier mit keinem Wort erwähnt werden. Doch ist die Frage nach deren Beibehaltung oder Abschaffung die Schlüsselfrage in der Debatte um den gleichwertigen Zugang zu Bildung von Kindern mit Behinderung.

Stattdessen wird einmal mehr auf die Etablierung von sogenannten inklusiven Regionen verwiesen: ein Modell, in dem eine zentrale Stelle für eine Region die Ressourcen, sprich Unterstützungspersonal für die einzelnen Schulen, koordiniert und die Pädagogen betreut. Was vom Ministerium als Strategie zur Schaffung eines inklusiven Systems präsentiert wird, könnte in der Realität allerdings genau die gegenteilige Wirkung haben. Denn die Schaffung von Strukturen, die dafür sorgen, dass je nach Bedarf Experten von außen herangezogen werden, bedeuten eine integrative Maßnahme – jedoch kein inklusives System.

Auch wenn sich unter den tabellarisch aufgelisteten Maßnahmen durchaus Punkte finden, die auf eine Veränderung der Unterrichtsqualität abzielen: Keine dieser Maßnahmen wird langfristige Wirkung entfalten können, wenn diesen nicht grundsätzliche Veränderungen im System Schule vorgeschaltet werden. Aber diese werden in dem Papier nicht näher ausformuliert – nicht zuletzt deshalb, weil wesentliche Punkte nach wie vor einer politischen Entscheidung harren. Da wäre etwa die künftige Ausbildung der Lehrer – einer der größten Streitpunkte in den laufenden Verhandlungen zum neuen Lehrerdienstrecht.

Aber auch die Frage danach, wie sich das Betreuungspersonal an Schulen künftig zusammensetzen soll, bleibt aus demselben Grund unbeantwortet. Denn die Frage nach dem Einsatz von Unterstützungspersonal an den Schulen ist der nächste Punkt, in dem Gewerkschaft und Regierung derzeit weit entfernt von einer Einigung sind. Antworten auf diese Fragen wären zentral. Auch, dass in dem Papier von der Regierung Maßnahmen vorgeschlagen werden, die aber zu weiten Teilen von den Ländern finanziert und von verschiedenen Institutionen umgesetzt werden müssen, wenn sie Wirkung entfalten sollen, ist wohl kein Garant für ein rasches Vorankommen.

Das Maßnahmenpapier hätte durchaus das Potenzial, eine umfassende Strategie dafür zu entwickeln, Menschen mit Behinderung in die Gesellschaft zu inkludieren. In seiner aktuellen Form erscheint es allerdings mehr als eine Auflistung von für sich stehenden Einzelmaßnahmen.

Auf einen Blick

Der „Nationale Aktionsplan Behinderung“ wurde vom Sozialministerium herausgegeben und enthält die Strategie der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention bis zum Jahr 2020. Das jeweils betroffene Ministerium ist für die Umsetzung und Finanzierung der einzelnen Maßnahmen zuständig.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.08.2012)

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