Tractatus-Preis: Herrscht ewiger Friede in der Philosophie?

(c) I. Bertzbach
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Herbert Schnädelbach erhält den Preis des Philosophicums Lech. Der „Presse“ erklärte er, warum es in der Philosophie heute keine großen Kontroversen mehr gibt. Und warum das Fach um Anerkennung ringen muss.

Die Presse: In Ihrem Buch „Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann“ wollen Sie zeigen, dass der Ausdruck „philosophisches Wissen“ kein leeres Wort ist. Sie schreiben, Philosophen verfügen über einen gesicherten Kernbestand wissenschaftlichen Wissens. Was kann man sich darunter vorstellen?

Herbert Schnädelbach: Zunächst ist mir der Unterschied zwischen Wissen und Gewissheit wichtig. Von philosophischem Wissen kann man nicht verlangen, dass es sich vom alltäglichen Wissen durch zweifelsfreie Gewissheit unterscheidet, obwohl dies die Philosophie der Neuzeit in der Tradition von Descartes bis Hegel forderte. Wenn man nur das als Wissen anerkennt, dessen man absolut gewiss ist, oder was man einfach nicht mehr bezweifeln kann, dann hat die Philosophie überhaupt keine Chance – dann haben die übrigen Wissenschaften aber auch keine!

Warum?

Alle Wissenschaften leben vom Zusammenspiel von Versuch und Irrtum, wie Popper gezeigt hat; sie kommen nur dadurch voran, dass sie Hypothesen formulieren und kritisch überprüfen, um Irrtümer auszuschließen. Auch in der Philosophie sollte man Wissen und Gewissheit nicht verwechseln. Wissen ist eine Überzeugung, für die man Wahrheit beanspruchen und dafür gute Gründe anführen kann. Auch die Einsicht, dass man sich geirrt hat, ist Wissen.

Sie wollen zeigen, dass Philosophen wirklich etwas wissen. Das klingt, als hätten diese es dringend nötig, sich zu rechtfertigen – und das nach über 2500 Jahren des Philosophierens.

Tatsächlich ist das Misstrauen gegen die Philosophie sehr verbreitet. Auf der einen Seite wird sie als „Königin der Wissenschaften“ unendlich bewundert, gleichzeitig ist man sich nicht sicher, ob sie überhaupt Wissenschaft sein kann. Manche halten sie bloß für eine höhere Spinnerei, andere verstehen sie als eine extravagante Art von Literatur.

Und dieses Misstrauen wurde von großen Philosophen geschürt...

Das stimmt. Jaspers sagte, Philosophie sei Existenzerhellung, mit Wissenschaft hätte sie nichts zu tun. Heidegger spielte sie mit seinem Verdikt „Die Wissenschaft denkt nicht“ gegen die Wissenschaft aus. Tatsächlich muss die Philosophie seit dem 19.Jahrhundert ständig um ihre Anerkennung als Wissenschaft kämpfen. Hatte sie bis dahin als die Wissenschaft schlechthin gegolten, wurde sie durch einen Wandel im Wissenschaftsverständnis in eine bis heute andauernde Identitätskrise gestürzt.

Angenommen, die Philosophie ist keine Wissenschaft. Hat sie dann ihre Existenzberechtigung verloren?

Es gibt kein einheitliches Kriterium der Wissenschaftlichkeit. Danach haben die Wissenschaftstheoretiker vergeblich gesucht. Wohl aber gibt es Merkmale von Wissenschaftlichkeit, die in den verschiedenen Disziplinen unterschiedlich realisiert sind. In der Mathematik macht man Gedankenexperimente, aber keine empirischen Versuche in Labors. Es gibt aber auch andere Kriterien wie Widerspruchsfreiheit, Konsistenz, Nachprüfbarkeit der Ergebnisse. Einige von ihnen erfüllt auch die Philosophie, sofern sie sich nicht nur als Geisteswissenschaft versteht. Die pauschale Frage, ob Philosophie eine Wissenschaft ist oder nicht, muss man somit zurückweisen. Man sollte besser fragen, in welcher Hinsicht sich die Philosophie wissenschaftlich betreiben lässt. In der Philosophie ist nämlich nicht alles beliebig, es gelten nicht nur die Kriterien der Literatur. Mein Buch will zeigen, dass sie sehr wohl auch Merkmale der Wissenschaftlichkeit erfüllt.

Aber wieso ist es denn so wichtig, dass über der Philosophie das Etikett „Wissenschaft“ steht?

In einer wissenschaftlichen Zivilisation, in der wir nun einmal leben, müssen die Philosophen das, was sie sagen, begründen und verantworten können. Nur wenn sie dabei zumindest einigen Kriterien der Wissenschaftlichkeit genügen, werden sie in der Öffentlichkeit überhaupt wahrgenommen.

Aber Sie bedauern die Verwissenschaftlichung Ihres Faches.

Ja, sie hat v.a. institutionelle Gründe. Früher haben Professoren, sofern sie nicht nur Philosophiegeschichte und Texthermeneutik betrieben haben, jeweils eine ganze Philosophie repräsentiert: Jeder von ihnen wollte ein System haben. Für solche Großordinarien, die heute von den jüngeren Kollegen als „Universaldilettanten“ angesehen werden, ist kein Platz mehr in einem Wissenschaftssystem, das auf öffentliche Förderung angewiesen ist. Weder in Deutschland noch in Österreich kümmert sich die Förderungspolitik um die Entwicklung von philosophischen Privatsystemen. Heute geht es um Themen und Probleme, so stehen interdisziplinäre Projekte im Vordergrund, an denen natürlich auch Philosophen mitarbeiten können. Das hat erhebliche Folgen für die Frage, wie man sich heute als Philosoph etablieren kann.

Und wie macht man das heute?

Als philosophische Habilitationsarbeit werden heute nicht mehr eigene Systeme akzeptiert. Sondern von einer solchen Arbeit wird verlangt, dass sie in einem bestimmten Diskussionszusammenhang einen nachweisbaren Fortschritt dokumentiert. Jüngere Philosophen haben nur Chancen auf eine akademische Position, wenn sie sich in einem eng abgegrenzten Gebiet qualifizieren können. Dies führt zu einer immer weiteren Spezialisierung unseres Fachs. Es wird immer mehr aufgespalten in lauter Bindestrichphilosophien: Rechts-, Staats-, Moral-, Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie. Die Philosophie besteht nur mehr aus lauter Teildiskursen. Die großen Kontroversen, die es einmal gegeben hat, kommen so gar nicht mehr vor. Man hat den Eindruck, in der Philosophie sei der ewige Frieden ausgebrochen.

Jeder hegt nur sein Gärtchen? Ein trister Befund.

Das kann man bedauern, ich sehe dazu keine Alternative. Die wissenschaftliche Philosophie scheint die Erwartung nur noch enttäuschen zu können, die sich früher stets an die Philosophie richtete: die einer Deutung des großen Ganzen. Dieses Geschäft übernehmen jetzt Bestsellerautoren, die vielfach als die „eigentlichen“ Philosophen gelten. Man kann das niemandem wirklich vorwerfen. Vielleicht müssen wir auf einen neuen Hegel warten, der als Systemphilosoph imstande ist, wieder eine Übersicht über das Ganze herzustellen. Aber der wäre dann auch wieder nur ein Spezialist – der fürs Allgemeine.

Der neue Tractatus-Preisträger

Herbert Schnädelbach, geboren 1936 in Thüringen, lehrte vor seiner Emeritierung (2002) zuletzt an der Humboldt-Universität in Berlin. Am 21.9. erhält er beim Philosophicum Lech für sein Buch „Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann“ den Tractatus-Preis, der heuer zum dritten Mal verliehen wird. Bisherige Träger: Franz Schuh, Kurt Flasch, Norbert Bolz.

Das Philosophicum Lech findet heuer von 19. bis 23.9. statt; Thema ist „Tiere. Der Mensch in der Natur“. Info: www.philosophicum.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.09.2012)

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