"Killing Osama": Bin Ladens letzte Stunden

Killing Osama Ladens letzte
Killing Osama Ladens letzte(c) AP (Pete Souza)
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In akribischer Recherche rekonstruierte US-Autor Mark Bowden die Tötung des al-Qaida-Chefs Osama bin Laden am 2. Mai 2011. Ein exklusiver Auszug aus seinem Buch "Killing Osama".

Die zwei Black-Hawk-Tarnhubschrauber erhoben sich um elf Uhr vom Flugfeld Dschalalabad. Sie waren geschwärzt und hatten eine minutiös kalkulierte Beladung an Bord. Jeder der Seals war vollständig ausgerüstet: Wüstentarnanzug, Helm, Nachtsichtbrille, Handschuhe sowie harte Knieschützer (um sich beim Schießen auf einem Knie abzustützen). Die Männer waren mit verschiedenen Pistolen und kurzläufigen automatischen Gewehren samt Schalldämpfer ausgestattet. Sie trugen nur leichte Waffen, da das Anwesen nicht im großen Stil gesichert war. Vielleicht würden sie auf Bewaffnete treffen, aber viele würden es nicht sein. Waren sie in der Lage, schnell und mit genau choreografierten Schritten im Schutz der Dunkelheit zuzuschlagen, als wäre es helllichter Tag, hätten sie einen überwältigenden Vorteil. Nach zehn Minuten Flugzeit überquerten die Hubschrauber die Grenze nach Pakistan. Sobald sie diesen Punkt erreicht hatten, starteten auch die großen Chinooks von Dschalalabad aus.

Admiral Bill McRaven, Befehlshaber des Kommandos für Spezialoperationen, saß in einem großen, fensterlosen und mit Sperrholz ausgekleideten Raum. Er blickte zu einer Wand mit Monitoren hinauf. Auf einem würden die Videobilder der Erstürmung auftauchen – die Kamera einer Drohne – aber dort gab es vorläufig noch nichts zu sehen. Ein anderer zeigte die Position der Hubschrauber. Die Spannung im Raum verdichtete sich spürbar, als die zwei kleineren Hubschrauber die Grenze zu Pakistan passierten, fünfzehn Minuten später gefolgt von den zwei Chinooks. Keiner von ihnen löste einen Alarm der pakistanischen Luftabwehr aus.

Auf dem großen Bildschirm im Situation Room des Weißen Hauses gab CIA-Chef Leon Panetta Updates über die Position der Hubschrauber durch. Eine Berater Obamas sagte: „Mr. President, das wird dauern, vielleicht möchten Sie nicht die ganze Zeit hier bleiben?“ – „Ich bleibe hier“, sagte Obama.


Absturz. Während sie sich aus nordwestlicher Richtung dem Anwesen näherten, tauchten die Black Hawks nun in den grobkörnigen Bildern der Drohne auf. Dann ging alles sehr schnell. Entsetzt sahen alle, wie der erste Hubschrauber – statt wie geplant über dem Anwesen zu schweben und die Seals abzulassen – plötzlich umschwenkte, mit seinem Heckrotor gegen die Wand des Anwesens krachte und auf dem Boden aufschlug. Das war eindeutig nicht gut. Der Pilot hatte versucht, seinen Black Hawk auf der Stelle kreisen zu lassen, aber der Hubschrauber gehorchte nicht, brach aus, und stürzte ab.

Das 160. Special Operations Aviations Regiment trainiert Situationen wie diese, und der Pilot des Black Hawk reagierte mit eingeübter Schnelligkeit. Er fand in einer Ecke des Anwesens eine flache Stelle, um eine harte, kontrollierte Bruchlandung zu ermöglichen. In einer Sekunde brach der Helikopter aus, in der nächsten steckte er bereits bewegungslos mit der Nase in einem Winkel von fünfundvierzig Grad im Boden. Niemand, der im Weißen Haus auf den kleinen Monitor blickte, konnte genau erkennen, was passiert war. Sie konnten nur sehen, dass er sich im Inneren des Anwesens befand, und wussten: Das war nicht der Plan.

In Dschalalabad stellte McRaven rasch sicher, dass niemand im Hubschrauber verletzt war. Rückschläge waren an der Tagesordnung. Es war eine Seltenheit, wenn ein Plan auch nur die ersten fünf Minuten eines Angriffs überlebte. McRaven hatte auch früher bereits Hubschrauber verloren, und er hatte noch Optionen in der Hinterhand.

Im Weißen Haus gab es noch immer keine Erklärung dafür, was passiert war, und in Obamas Gesicht war die Sorge eingebrannt. Ein Fotograf machte jenen berühmten Schnappschuss: In der Mitte betrachtet General Marshall Bradley Webb, der die Kommunikation mit Dschalalabad führte, das Live-Video und den Chat auf seinem Laptop. Obama sitzt mit gerunzelter Stirn in der Ecke, Außenministerin Hillary Clinton hält sich die Hand vor den Mund, Verteidigungsminister Robert Gates und Vizepräsident Joe Biden sehen bedrückt aus, Mitarbeiter säumen die Rückwände, die Blicke auf den Bildschirm. Obama war nervös wie nie zuvor. Er wusste, das Risiko war hoch, für die Männer in den Hubschraubern, aber auch für das Land, für die Regierung – für ihn. Später würde er sagen, es seien die längsten Minuten seines Lebens gewesen.


Plan gescheitert? Als der erste Hubschrauber abstürzte, wich der zweite von seinem planmäßigen Kurs ab und landete außerhalb der Mauern auf einem frischbepflanzten Feld. Eigentlich war vorgesehen gewesen, dass er kurz außerhalb des Anwesens in der Luft verharren sollte, um den Übersetzer, den Hund und vier Seals abzulassen. Dann sollte er zu dem dreistöckigen Haus fliegen, um den Rest des Teams auf dem Dach abzusetzen. Den Zuschauern kam es vor, als sei der ganze Plan Makulatur – als plötzlich doch die Erstürmung begann: Der Absturz hatte nur eine Verzögerung bewirkt. Das Team aus dem abgestürzten Hubschrauber bewegte sich rasch an den Innenmauern entlang und hielt nur inne, um eine Metalltür aufzusprengen, die ins Haus führte. Das Team des zweiten Hubschraubers verschaffte sich durch eine andere Tür gewaltsamen Zugang. Lichtblitze tauchten auf den Bildschirmen auf.

Berichten von Bin Ladens Familie zufolge waren die Bewohner im oberen Stockwerk von einem lauten Aufprall aus dem Schlaf geschreckt worden. Bin Laden befahl seiner Ehefrau Amal, die Lichter gelöscht zu lassen. Sie wäre aber gar nicht in der Lage gewesen, sie einzuschalten, da CIA-Agenten die Elektrizität in der gesamten Nachbarschaft lahmgelegt hatten. Der Scheich wartete zusammen mit Amal oben im Dunkeln.

Eine Gruppe Seals betrat den Garagenbereich des Gästehauses. Einige Schüsse wurden auf sie abgefeuert, wild und ziellos. Die Soldaten erwiderten das Feuer, töteten dabei den Kurier Ahmed und verwundeten seine Frau. Ein anderer Teil des Teams bewegte sich auf das Haupthaus zu und kämmte es methodisch durch. Der Bruder des Kuriers befand sich zusammen mit seiner Frau Bushra in einem Schlafzimmer im ersten Stock. Beide wurden erschossen.

Die Seals durchstreiften den ersten Stock Raum für Raum. Keiner kannte den Grundriss des Gebäudes. Als sie eine abgeschlossene Metalltür entdeckten, brachten sie C-4-Sprengstoff an, sprengten die Tür aus den Angeln und bewegten sich die dahinterliegende Treppe hinauf. Bin Ladens dreiundzwanzigjähriger Sohn Khalid, ein dünner, bärtiger Mann in weißem T-Shirt, wurde am oberen Treppenabsatz erschossen. Im Stockwerk waren noch einige weinende Frauen und Kinder – keine Bedrohung. Das Team wusste es noch nicht, aber es war nur noch ein männlicher Erwachsener auf dem Anwesen. Er befand sich im Schlafzimmer des dritten Stocks.

Ursprünglich hätte sich die Hälfte der Seals über den Balkon Zutritt zum dritten Stock verschaffen sollen, wobei Bin Laden unverzüglich entdeckt worden wäre. Stattdessen blieben ihm fünfzehn lange Minuten, um in der Dunkelheit abzuwarten, wie sich die Seals näherten. Die Angreifer sprengten die Tür auf, die den dritten Stock verbarrikadierte. Bin Laden musste gehört haben, wie sie die Treppe heraufkamen.


Tödlicher Kopfschuss. Der Soldat, der als Erster den oberen Stock betrat, erblickte einen großen, bärtigen, dunkelhäutigen Mann mit Gebetskappe und der traditionellen pakistanischen Kleidung: ein knielanges Hemd über pyjamaartigen Hosen. Die Seals feuerten, der Mann hastete in sein Schlafzimmer zurück, gefolgt von den Soldaten. Im Zimmer fanden sie zwei Frauen, die über dem von einem Kopfschuss tödlich verwundeten Bin Laden kauerten.

Der erste Seal riss die Frauen gewaltsam beiseite, die beiden anderen stellten sich vor ihm auf und feuerten mehrmals in seine Brust. Die Angelegenheit war innerhalb von Sekunden beendet. Amal war ins Bein geschossen worden. Auf einem Regal waren Waffen bereitgestanden, Bin Laden hatte sie aber nicht ergriffen. Seine Identität war eindeutig, trotz eines grotesken Einschusslochs in seinem linken Auge. Der Architekt des 11. September hatte längst das berüchtigtste Gesicht der Welt.

„Für Gott und Vaterland – wir haben Geronimo erreicht“, hörte McRaven. „Geronimo. Geronimo.“ Das Wort bedeutete, dass man am entscheidenden Punkt der Erstürmung angelangt war: Bin Laden war gefasst worden.

Doch der Präsident wusste, dass die Identität nur vorläufig geklärt war. Er mochte noch nicht vollständig daran glauben. Wie viel Erleichterung, Begeisterung oder Befriedigung er in diesem Moment auch empfand – er drängte diese Gefühle beiseite. Für ihn bedeutete es, dass die Seals mit dem Rückzug beginnen konnten, was hieß, dass sie sich womöglich den Weg freikämpfen mussten. Als er den Bericht erhielt, dachte der Präsident: Macht, dass ihr da rauskommt, zum Teufel!

Nachdem McRaven seine Meldung übermittelt hatte, fiel ihm auf, dass er nicht nachgefragt hatte, ob Bin Laden gefangen genommen oder getötet worden war: „Finden Sie heraus, ob Geronimo im Kampf getötet wurde.“ Die Antwort lautete: „Roger, Geronimo EKIA [Enemy Killed in Action].“ Also gab McRaven auch dies an Panetta und das Weiße Haus weiter. „Sieht aus, als hätten wir ihn“, sagte Obama.


Blutige Spur. Die Verzögerung zwischen den beiden Berichten sorgte für Verwirrung. Sie führte zu der Vermutung, die Seals hätten Bin Laden zuerst gefunden, ihn gejagt und erst einige Minuten später getötet. Doch das Finden und Töten hatte nicht länger gedauert, als die Soldaten benötigt hatten, um sich Zutritt zu dem Raum zu verschaffen. Achtzehn Minuten nach der Ankunft der Hubschrauber.

Der Bildschirm zeigte nun die Seals, wie sie die unverletzten Frauen und Kinder in einer Ecke des Grundstücks zusammentrieben. Bin Ladens toter Körper war mit den Füßen voran die Treppe hinuntergeschleppt worden, wobei er eine blutige Spur hinter sich hergezogen hatte. Eine seiner Töchter sagte später aus, der Kopf ihres Vaters habe gegen jede einzelne Stufe geschlagen. Die Seals legten ihn in einen Leichensack aus Nylon. Sie bewegten sich bedächtig, und Obama hatte das Gefühl, sie bräuchten zu lange, man erwartete eine Reaktion der Pakistanis.

Doch es gab noch einiges zu erledigen: Oben sackten Seals eilig Bin Ladens Papiere und seinen Computer ein, Disketten, USB-Sticks, alles, was nützliche Informationen beinhalten konnte. Bin Ladens jüngster Ehefrau, der verwundeten Amal, half man die Treppe hinunter, draußen beschimpfte sie die Amerikaner auf Arabisch. Alle vier Männer, die auf dem Anwesen gelebt hatten, und eine Frau waren tot. Den überlebenden Frauen und Kindern wurden Plastikhandschellen angelegt. Als sie von einem Arabisch sprechenden Seal befragt wurden, bestätigten die Frauen, dass es der „Scheich“ war, den die Soldaten getötet hätten.

Ein Chinook landete nun lautstark außerhalb der Mauern. Einige Männer legten Sprengstoff an den abgestürzten Black Hawk, um dessen geheime Elektronik zu zerstören. Ein Mediziner zog den Reißverschluss von Bin Ladens Leichensack auf, entnahm Blutproben und Knochenmark für einen DNS-Test. Zwanzig weitere Minuten verstrichen, bis der Leichensack in den Black Hawk verfrachtet wurde. Endlich sah das Publikum im Weißen Haus, wie der abgestürzte Black Hawk explodierte. Das Demolition-Team hastete zu dem Chinook hinüber, die beiden Hubschrauber stiegen auf und ließen ein loderndes Wrack, eine verblüffte Ansammlung gefesselter Frauen und Kinder sowie vier Leichen zurück.


In Sicherheit. Obwohl die Hubschrauber nun in der Luft waren, ließ die Spannung nicht nach. Zuerst flogen sie nach Kala Dhaka, um sich mit dem zweiten Chinook zu treffen und den Black Hawk aufzutanken. Zwanzig Minuten später brachen sie zum Rückflug nach Dschalalabad auf. All das ohne die geringste pakistanische Reaktion. Als die Luftwaffe des Landes schließlich zwei F-16-Kampfjets losschickte, befand sich das Einsatzkommando längst sicher jenseits der Grenze.

Die Hubschrauber landeten um drei Uhr nachts in Dschalalabad. Keiner der Männer, die an der Erstürmung teilgenommen hatten, war verletzt. Sie hatten einen Helikopter verloren. Aber sie hatten Osama bin Laden getötet. Die Seals waren sich dessen sicher, aber das Weiße Haus und die Welt würden weitere Beweise fordern.

McRaven verabschiedete sich für zwanzig Minuten von seinem Bildschirm, um vor die Tür zu gehen und auf dem Flugfeld die Männer in Empfang zu nehmen, die den Leichensack aus dem Hubschrauber senkten. Der Sack war nicht verschlossen, unverzüglich wurden Fotos geschossen und nach Washington und Langley übermittelt. Der Mann war seit einer Stunde vierzig Minuten tot, und ihm war in den Kopf geschossen worden. Das Gesicht war dementsprechend geschwollen und entstellt. McRaven rief in Langley an und fragte: „Wie groß ist der Typ?“ Antwort: „Zwischen eins fünfundneunzig und knapp zwei Meter.“ Der tote Mann war zweifellos groß, aber niemand hatte ein Maßband dabei, also legte sich einer der Seals, der selbst exakt 1,98Meter groß war, neben die Leiche. Der Körper war etwa genauso lang.

Als McRaven wieder zum Kommandozentrum zurückgekehrt war, fragte ihn Obama: „Was glauben Sie?“ – „Nun, ohne DNS kann ich nicht behaupten, dass ich hundertprozentig sicher wäre“, sagte der Admiral. „Aber ich bin ziemlich verdammt sicher.“

Der Präsident blieb immer noch zurückhaltend. Was konnte schlimmer sein, als bekanntzugeben, dass man den Gründer und Anführer von al-Qaida getötet hatte, und sich später herausstellte, dass es ein Irrtum gewesen war? Als der damalige CIA-Chef Leon Panetta, sein Vize Michael Morell und „John“, der Leiter des Bin-Laden-Teams, im Weißen Haus ankamen, ging Morell mit dem Präsidenten die Details der Gesichtsanalyse durch, die mit 95 Prozent Sicherheit ergeben hatte, dass es sich um Bin Laden handelte. Der Präsident erkundigte sich nach der DNS-Analyse, die weitaus beweiskräftiger gewesen wäre, doch Morell sagte ihm, dass sie frühestens am Montagmorgen mit den Resultaten rechnen konnten. Wäre es dann nicht das Beste, noch zu warten? Warum ein Risiko eingehen?

Es war nun früher Sonntagabend. Von seinem Platz im Situation Room aus fragte Obama in die Runde, ob sie Bin Ladens Tod noch am selben Abend bekanntgeben oder bis zu den Resultaten des DNS-Tests warten sollten. Und würde das Geheimnis überhaupt so lange gewahrt werden können?

„Es wird nicht wirklich wahr sein, bis wir sagen, dass es wahr ist“, warf Obama ein. „Deshalb beunruhigt es mich auch nicht, wenn es vorzeitig durchsickert. Wir sollten es bestätigen, wenn wir dazu in der Lage sind, nicht, wenn wir uns dazu genötigt fühlen.“

Jay Carney machte sich ans Werk, das Pressekorps des Weißen Hauses für eine außerordentliche Erklärung zu versammeln. Einen nach dem anderen ließ er wissen: „Hören Sie, Sie werden dabei sein wollen, aber ich kann Ihnen nicht sagen, warum.“ Die meisten vermuteten, dass Libyens Diktator Muammar al-Gaddafi getötet worden war. Auf Bin Laden kam niemand.


Der Auszug wurde von der „Presse am Sonntag“ gekürzt und redigiert.

„Killing Osama. Der geheime Krieg des Barack Obama“, Mark Bowden, Berlin Verlag 2012, 320 Seiten, 14,99 €

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.10.2012)

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