Rede vor dem Nationalrat

Wie Selenskij seine Rede auf Österreich zuschnitt

Per Video sprach Wolodymyr Selenskij am Donnerstag vor den österreichischen Abgeordneten.
Per Video sprach Wolodymyr Selenskij am Donnerstag vor den österreichischen Abgeordneten.APA/ROBERT JÄGER
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Moralisch könne man nicht neutral sein, betonte der ukrainische Präsident in seiner Rede vor dem Nationalrat. Waffenhilfe konnte er nicht fordern. Doch er appellierte um Unterstützung bei der Räumung von Minen.

Vor Dutzenden Parlamenten und bei zahllosen Preisverleihungen in aller Welt hat Wolodymyr Selenskij mit geschliffener Rhetorik schon sein Plädoyer gegen den russischen Angriffskrieg vorgetragen. Vorwiegend hat er die Reden virtuell gehalten, via Video zugeschaltet aus Kiew und gespickt mit Anspielungen auf die nationale Geschichte und Winston-Churchill-Metaphern à la „Niemals aufgegeben“ und „Blut, Schweiß und Tränen“. Im US-Kapitol, im britischen Parlament und im

EU-Parlament in Brüssel ist er zuletzt sogar persönlich aufgetreten.
Nach einer endlosen Kontroverse, die bis ins vorige Frühjahr zurückreicht, ist der ukrainische Präsident am Donnerstagvormittag für eine knappe Viertelstunde auch im österreichischen Nationalrat zu Wort gekommen. Neben Budapest und Sofia hatte Wien bisher in der Liste der Selenskij-Ansprachen in EU-Hauptstädten gefehlt.

Für den gelernten Schauspieler sind die Video-Auftritte längst Routine, und am 400. Tag des Kriegs verzichtete er auf von Musik untermalte Videosequenzen über russische Gräuel in Butscha und Mariupol, wie er dies im Vorjahr exerziert hatte. Es fehlten auch Bezüge zur altösterreichischen Vergangenheit in Galizien und der Bukowina, zu Lemberg (Lwiw) oder Czernowitz, der heutigen Westukraine.

Maßgeschneiderte Botschaft

Nach den jüngsten Frontbesuchen zur Stärkung der Moral ist der 45-Jährige wieder an seinen Schreibtisch zurückgekehrt, um im schwarzen Sweater seine Rolle als Verteidiger seines Landes, das „Russland in sein Reich zurückholen will“, und als Ankläger der Kreml-Führung einzunehmen. Von Anfang an hat die ukrainische Regierung eine Kommunikationsstrategie entwickelt, die maßgeschneidert ist für das jeweilige Publikum. Wie in Washington, London, Berlin oder Jerusalem war Selenskijs Standardrede auf die Zuhörerschaft in Österreich zugeschnitten.

Eingangs bedankte er sich bei Karl Nehammer und am Ende auch bei Alexander Van der Bellen für ihre Solidaritätsbesuche in Kiew, für die Aktion Nachbar in Not und die Unterstützung im Gesundheitsbereich – im Speziellen bei Spitälern in Wien, Graz und Linz für die Behandlung ukrainischer Verbrennungsopfer. Insgesamt hat Österreich laut Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka 94.000 Flüchtlinge aufgenommen und 129 Millionen Euro an finanzieller Hilfe zur Verfügung gestellt.

Selenskij weiß natürlich um den Status der Neutralität Österreichs – und er weiß daher auch, dass er nicht Waffen oder militärische Ausrüstung von der schwarz-grünen Koalition fordern kann. Umso eindringlicher appellierte er an Wien um Unterstützung bei der Räumung von Minen. 174.000 Quadratkilometer der Ukraine – eine Fläche, doppelt so groß wie Österreich – seien mit Minen, Mörsern, Granaten, nicht explodierten Raketen kontaminiert. Überall, so schildert er, habe die russische Armee perfide Sprengfallen hinterlassen: am Straßenrand, in Parks, in Gebäuden, in Wohnungen, im Bücherschrank, unter dem Klavierdeckel, in der Waschmaschine, unter einem umgestülpten Plastikbecher.

Granaten unter dem Klavierdeckel

„Wir bitten um Unterstützung, um Leben zu retten.“ Das österreichische Bundesheer hat im Zuge der Balkan-Kriege Erfahrung und Expertise bei der Beseitigung derartiger Sprengfallen erworben. In der Ukraine seien österreichische Experten bereits im Einsatz, der indes noch ausgebaut werden könnte, wie es in Kiew heißt. Überall sei Hilfe dringend vonnöten – auf dem Energiesektor oder in der Gesundheitsversorgung.

Selenskij sprach seinen Zehn-Punkte-Friedensplan an und monierte, dass eine Antwort aus Moskau ausstehe. Abgesehen von einer fadenscheinigen Friedensinitiative Chinas zeichnen sich derzeit keine Vermittlungsaktivitäten ab. Im Gegenteil: Beide Seiten bereiten ihre Frühjahrsoffensiven vor. Angesichts des „Bösen“ könne es keine moralische Neutralität geben, betonte der ukrainische Staatschef, der vom „Time“-Magazin zum „Mann des Jahres“ gewählt worden ist und in Aachen mit dem Karlspreis ausgezeichnet werden wird.

Jahrestag der Befreiung Butschas

Es gehe nicht um Geopolitik. Es gehe darum, dass „ein Mensch ein Mensch bleiben“ müsse. „Alles, was wir wollen, sind Sicherheit und Ruhe, Freiheit und Glück. Ist das zu viel verlangt?“ Nach 13 Kriegsmonaten ist sein Glaube indes unerschütterlich: „Die Ukraine wird siegen.“ Und er fügte als Schlusswort den Ausruf „Slava Ukrajini“, „Freiheit für die Ukraine“, hinzu, der nicht nur in der Ukraine längst zum geflügelten Wort geworden ist.

Im Anschluss erinnerte der Multimedien-Spezialist Selenskij anlässlich des Jahrestags der Rückeroberung von Butscha via Telegram an die Schrecken des Kriegs im 21. Jahrhundert. Die Befreiung der Region um Kiew sei zum Symbol geworden. So stimmte er die Nation auf Kriegstag 401 ein.

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Per Video war Selenskij am Donnerstagvormittag im österreichischen Parlament zugeschaltet.
Redetext

Wolodymyr Selenskijs Rede im Parlament im Wortlaut

„Bitte denken Sie daran: Wenn wir um Unterstützung für die Ukraine bitten, bitten wir darum, Leben zu retten.“ Die Rede des ukrainischen Präsidenten Selenskij in der deutschen Übersetzung der ukrainischen Botschaft.

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