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KI lässt Juristen hoffen und bangen

Chat GPT. Die immer mächtigeren Ausformungen von künstlicher Intelligenz eröffnen ungeahnte Möglichkeiten für die Rechtspraxis. Doch nicht allen ist bei dieser Vorstellung ganz wohl.

Die Sprache ist das wichtigste Werkzeug für Juristinnen und Juristen: Gebote, und Verbote, überhaupt alle Normen, die sich notfalls mit Zwang durchsetzen lassen, drücken sich in Worten aus. Kein Wunder, dass die rasante Verbreitung eines denkenden Textautomaten wie Chat GPT die Rechtsbranche in Aufruhr versetzt. Hilft die künstliche Intelligenz (KI) bei der juristischen Arbeit, oder macht sie den Menschen als Interpreten und Anwender der Normen überflüssig?

„Es ist nicht so, dass man keine Juristinnen und Juristen mehr brauchen wird, aber wahrscheinlich weniger für die Zuarbeit im Hintergrund“, sagt Christiane Wendehorst, Professorin für Zivilrecht und Vizechefin des Instituts für Digitalisierung und Recht der Uni Wien. „Bei vielen eher stupiden Tätigkeiten, wie einfachen Literaturrecherchen oder Suchen nach einschlägiger Judikatur, wird einiges durch KI ersetzt werden“, so Wendehorst.

Mit Chat GPT macht sie eine Probe aufs Exempel: Sie schildert dem Programm einen Sachverhalt – einen Autounfall, bei dem ein Fußgänger verletzt wurde – und fragt nach den Rechtsfolgen. Nach dem artigen Hinweis, dass es sich bei dem Sprachmodell um keine Rechtsberatung handle – die würde dem Verbot der Winkelschreiberei widersprechen –, gibt Chat GPT eine recht allgemeine, aber durchaus zutreffende Antwort. Auf genauere Nachfrage versteigt es sich aber in einen Hinweis auf ganz unpassende Abstammungsregeln. „Das ist völlig aus der Welt gefallen“, meint Wendehorst. Sie vermutet, dass eine rein statistische Logik zu diesem Irrtum geführt hat. Doch nachvollziehen kann man das von außen nicht.

Prototyp für Rechtsrecherche

Bei Manz, einem der führenden Anbieter von Rechtsinformation in Österreich erst auf Papier, mehr und mehr aber auch digital, ist man einen Schritt weiter. Manz hat dieser Tage nicht nur seine analoge Buchhandlung am Wiener Kohlmarkt mit dem von Adolf Loos entworfenen Portal zugesperrt; fast zeitgleich hat das Unternehmen den Prototypen eines KI-Tools für Rechtsrecherche veröffentlicht. „Wir versuchen, ein Modell anzubieten, bei dem die Suchanfragen besser verstanden und bessere Ergebnisse geboten werden“, sagt Alexander Feldinger, Produktmanager für die Manz‘sche Rechtsdatenbank RDB.

Der wesentliche Unterschied von GPT 4 Genjus zu Chat GPT: Die Suche nach Lösungen bewegt sich in 400.000 Dokumenten der RDB und des Rechtsinformationssystems des Bundes; hat das Programm passende Texte gefunden, werden diese in einem zweiten Schritt durch den Textgenerator GPT 3.5 Turbo zu einer Antwort geformt, Fußnoten zu den referenzierten Dokumenten inklusive.
Ein Test mit der Frage, bis wann ein Angestellter, der auch freiberuflich tätig ist, seine Einkommensteuererklärung für 2022 abgeben muss, liefert das richtige Ergebnis (über Finanzonline bis Ende Juni). Dies freilich auch mit einem etwas irrlichternden Hinweis: „Aufgrund der aktuellen Situation wurde die Frist zur Einreichung der Steuererklärungen für das Jahr 2018 auf den 31. August 2020 verlängert.“ Die Aktualität von Dokumenten zu berücksichtigen gehört zu den härteren Nüssen.

Fachleute sind sich einig, dass KI in der Juristerei nur unterstützend wirken kann, sich die Kontrolle durch natürliche Intelligenz aber nicht erübrigen wird. „Die komplexe juristische Arbeit wird nicht ersetzt werden. Die KI-unterstützte Technologie wird auf die Routinearbeit eine substanzielle Auswirkung haben“, sagt Andrei Salajan, in der Anwaltskanzlei Schönherr für die Digitalisierung zuständig. „Egal, was man bekommt, man wird es oft überprüfen und gegebenenfalls korrigieren müssen.“ Die Einsatzmöglichkeiten von KI in Kanzleien wären aber vielfältig; wie schon bisher Computer beim Durchforsten von Dokumenten für Due-Diligence-Prüfungen eingesetzt werden, tun sich vom Anonymisieren von Texten bis zum Wissensmanagement in Kanzleien weite Tätigkeitsfelder auf. „Die Arbeitsweise von uns allen wird sich ändern. Human Skills und Intelligence werden im Vordergrund stehen und der differenzierende Faktor sein“, so Salajan. „Man kann sich auf spannendere Tätigkeiten fokussieren.“

Doch was wird aus den Berufsanwärtern, die heute oft mit ebenjenen Aufgaben betraut sind, die in den Prozessoren der KI aufgehen können? Müssen sie um ihre Jobs bangen? Gerald Dipplinger, Leiter der Digitalisierungs- und Innovationsabteilung im Beratungsunternehmen PwC Österreich, warnt vor Panik. Abgesehen davon, dass es zurzeit ohnehin zu wenige geeignete Kandidaten gebe, werde es darauf ankommen, Neueinsteiger rascher zu höherwertigen Tätigkeiten zu bringen. „Aber auch in der Juristerei gibt es viele Tätigkeiten, bei denen Konzipienten sagen: ,Dafür bin ich nicht auf die Uni gegangen.‘“

Dort macht sich indes auch schon die KI breit. So staunen Lehrende, in welch hoher Qualität Chat GPT zum Verfassen von Seminararbeiten genutzt werden kann. Unbemerkte Plagiate gab und gibt es zwar schon bisher, aber die Art des Lehrens und Prüfens wird sich angesichts der generativen Fähigkeiten der KI stark ändern müssen. Deren Verbot erscheint unmöglich – man wird mit ihr leben müssen.

Für Sophie Martinetz, Gründerin des Legal-Tech-Netzwerks Future Law, überwiegt das Positive der KI: „Auch wir Wissensarbeiter sehnen uns doch danach, dass uns jemand die repetitiven Arbeiten abnimmt, die wir nicht so gern machen.“

Textautomat

Seit das Sprachmodell Chat GPT, ein leistungsfähiger Textautomat, frei zugänglich ist, wird über seine Nutzbarkeit in der juristischen Arbeit diskutiert. Zumindest manche Routinearbeit könnte wohl ausgelagert werden.

Jubiläum

Welche Zukunft haben Liberalismus und Meinungsfreiheit? Diese Frage stellte sich im Revolutionsjahr 1848, als „Die Presse“ erstmals erschien. Und sie stellt sich heute mehr denn je. In unserem Schwerpunkt zum Jubiläum blicken wir zurück und nach vorne.

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