175 Jahre „Die Presse“

„Wir stehen vor einer goldenen Zeit des Journalismus“

Chefredakteur von „Politico Europe“, Jamil Anderlini, am 20. Juni 2023, in seinem Büro in Brüssel, Belgien.
Chefredakteur von „Politico Europe“, Jamil Anderlini, am 20. Juni 2023, in seinem Büro in Brüssel, Belgien. Thierry Monasse
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Meinungsfreiheit. Die EU-Institutionen haben ein Problem mit kritischer Berichterstattung, sagt Jamil Anderlini, Chefredakteur von „Politico Europe“.

Die kleinen hier sind die schlimmsten. Die zerstören einem direkt das Auge.“ Jamil Anderlini zeigt dem „Presse“-Korrespondenten den Inhalt des Plastiksacks, den er in seinem Büro als Erinnerung an seine Jahre in Hongkong aufbewahrt: Gummigeschosse wie jenes besagte, leere Tränengaskanister, in mehreren Größen. Mit der brutalen Niederschlagung der Pro-Demokratie-Proteste durch die chinesische Bereitschaftspolizei vor drei Jahren endete seine Zeit als Leiter der Asien-Redaktion der „Financial Times“. Seit Oktober 2021 leitet der Neuseeländer mit US-Pass die 73-köpfige Redaktion von „Politico Europe“ in Brüssel. Um sich stets vor Augen zu führen, worum es im Journalismus letztlich immer geht, hängt neben seinem Schreibtisch, an der Wand eingerahmt, das Titelblatt der letzten Ausgabe der unabhängigen Hongkonger Tageszeitung „Apple Daily“. „Ihr Herausgeber, Jimmy Lai, ist ein Freund von mir. Er sitzt jetzt im Gefängnis, vermutlich für den Rest seines Lebens“, sagt Anderlini.

Die Presse: Als Sie diesen Posten übernahmen, haben Sie gesagt, Ihr Anspruch sei es, dass „Politico“ die führende Quelle für Politiknachrichten in allen demokratischen Gesellschaften der Welt werden soll. Das ist ein großes Ziel. Wie wollen Sie es erreichen?

Jamil Anderlini: Ich würde sagen, dass wir in Washington und Brüssel bereits dominant sind. Wir haben hier große Redaktionen und decken täglich die politischen Nachrichten durch unsere Newsletter, die Berichte auf unserer Website und unseren Pro-Abonnementdienst ab. Heuer haben wir sehr schnell in London expandiert, ein bisschen in Paris, und wir wollen mehr in Berlin machen. Unser Modell ist hyperlokal: Politik ist immer lokal, und wir schreiben für die Menschen in diesen Machtzentren. Aber wir versuchen auch, diese Blasen für Menschen anderswo zu erklären. Es geht für uns also darum, weiterhin extrem relevant für die politische Klasse in diesen Machtzentren zu sein, aber diese Berichterstattung zugleich zu verknüpfen. Also: Flagge hissen, Position konsolidieren, expandieren, nächsten Markt erobern.

Als Journalist, exzellent geschult in der „Financial Times“, und als Weltbürger, der die totalitäre Verhärtung in China hautnah erlebt hat: Welchen Eindruck haben Sie von Brüssel?

Wenn man in einer Gesellschaft gelebt hat, in der es keine Demokratie und Redefreiheit gibt, oder wo sie bedroht sind, schätzt man die Kraft, Wichtigkeit und Notwendigkeit einer freien Presse in echten Demokratien so richtig. Hongkong war einer der freiesten Orte Asiens. Das ist jetzt weg. Als ich nach Brüssel kam, fand ich, dass es hier Ähnlichkeiten zur Kommunistischen Partei Chinas gibt. Ich meine das nur teilweise im Scherz. Natürlich ist das ein freierer und sehr demokratischer Ort. Aber es gibt gewisse Abwesenheiten von Rechenschaftspflicht, leicht autoritäre Tendenzen . . .

Welche zum Beispiel?

Wir sehen sie immer wieder: vor allem Beamte der Europäischen Kommission, die offensichtliche Interessenkonflikte haben, aber nicht zur Verantwortung gezogen werden. Erst jüngst haben wir enthüllt, dass der Generaldirektor für Erweiterung und Nachbarschaftspolitik ein Luxushotel auf Bali besitzt – und das nicht einmal intern melden musste. Es gibt hier ein Niveau an Straflosigkeit und Verzicht darauf, sich verantworten zu müssen, die mich überrascht haben. Vielleicht war ich zu idealistisch über die europäische Supermacht der Werte.

Keinem der betroffenen Beamten ist nach diesen Berichten etwas passiert: Sie haben Bezüge und Pensionsansprüche behalten, wurden höchstens auf andere Posten verschoben. Hat Journalismus in Brüssel keine Konsequenzen?

Ich teile diese Sicht nicht. Ohne unsere Enthüllungen hätten diese Leute ungestört weitergemacht. Als Ergebnis unserer Berichterstattung hat zudem die Kommission ihre Regeln geändert. Letztlich ist das, alles in allem, ein sehr demokratischer Ort, an dem die freie Presse großen Einfluss hat.

Manchmal wird einem als Reporter in Brüssel bei Recherchen in der Kommission oder im Europaparlament vorgeworfen, man schädige das europäische Projekt, zerstöre den Traum Europas. Ist Ihnen das schon untergekommen?

Ja. Meine Antwort ist dann stets: Wir sind komplett unparteiisch. Wir sind weder links noch rechts. Wir haben nicht einmal Meinungsseiten. Die redaktionelle Meinung von „Politico“ existiert also nicht, was ich für eine gute Sache halte. Weder unterstützen wir, noch lehnen wir das europäische Projekt ab. Wir sind hier, um darüber zu berichten. Das ist für viele Leute in dieser Stadt überraschend. Und ich sage zudem: Wenn wir die Mängel des europäischen Projekts offenlegen, werden die hoffentlich korrigiert, und somit tun wir ihm einen Dienst. Es entspringt einer autoritären Gesinnung, zu sagen, man könne nicht über bestimmte Dinge schreiben, weil sie schaden könnten.

Ich finde Ihren Verzicht auf Meinungsartikel interessant. A. J. Sulzberger, der Herausgeber der „New York Times“, schrieb neulich in der „Columbia Journalism Review“, die Zukunft unserer Branche liege im Berichten, nicht im Kommentieren. Doch wir sehen bei der „Presse“: Je greller ein Meinungsartikel ist, desto mehr Leute klicken ihn an, und desto bedeutsamer ist er für uns kaufmännisch. Was läuft da falsch?

Ich denke, die Polarisierung des öffentlichen Diskurses passiert schon länger. Aber für mich ist das Internet vergleichbar mit der Erfindung der Druckerpresse. Sie hat die Reformation, Glaubenskriege, enorme Erschütterungen nach sich gezogen. Zugleich aber beförderte sie die Alphabetisierung der Massen, die Verbreitung von Ideen, die Aufklärung. Vor dem Internet haben die Kosten für Druck und Vertrieb Zeitungen in ihrem Wachstum begrenzt. Das ist nicht mehr relevant. Man kann eine Million Abonnenten gewinnen, ohne viel Geld auszugeben.

Axel Springer, Ihr Eigentümer, muss in Ihre Redaktion gehörig investieren, die digital erfolgreiche „New York Times“ ebenso. Gratis geht es nicht.

Stimmt. Aber ich glaube, dass wir nach einigen schweren Jahren vor einem goldenen Zeitalter des Journalismus stehen. Kann man wirklich sagen, dass der Journalismus in einer Krise ist? Ich denke, das Geschäftsmodell ist in einer Krise. Aber wir haben nie mehr Journalismus gesehen als heute. Die Verbreitung von unzuverlässiger Information und Fake News im Internet führt zu erhöhtem Vertrauen in alte Marken – wie Ihre, eine 175 Jahre alte. Ich bin optimistisch. Ich denke, die enormen Mengen an Informationen im Internet werden die Menschen zu zuverlässigen Marken führen: zu „Politico“, zum „Wall Street Journal“, zur „Financial Times“, zur „New York Times“ . . .

. . . und ein bisschen zu uns, hoffentlich.

Genau! „Die Presse“: 175 Jahre, das ist derart wertvoll, in der Revolution von 1848 geboren worden zu sein. Wir sind erst 16 Jahre alt. Aber auch für eine vergleichsweise junge Publikation wie uns ist Tradition wichtig, Rituale, zu erkennen, woher man kommt und wer die Menschen sind, die das vor uns aufgebaut haben.

Sie schreiben für die Blase der politischen Eliten. Ein alter Traum der Fans der EU ist es, ein paneuropäisches Medium zu schaffen. Ist das realistisch?

Ich glaube, am realistischsten ist es, dass man ein paneuropäisches Medium schafft, das sich auf Politik konzentriert. Das kann, muss aber nicht notwendigerweise „Politico“ sein. Und dann denke ich, dass es eine Wahrscheinlichkeit für ein paneuropäisches Medium über Sport, eines über Lifestyle und so weiter gibt. Das wird vermehrt passieren. Und es wird auf Englisch geschehen: Das ist die Lingua franca der Europäischen Union.

Jamil Anderlini

leitet seit Oktober 2021 die Brüssel-Redaktion von „Politico“. Der US-Neuseeländer war zuvor Peking-Korrespondent der „Financial Times“, später ihr Asien-Chef.

Jubiläum

Welche Zukunft haben Liberalismus und Meinungsfreiheit? Diese Frage stellte sich im Revolutionsjahr 1848, als „Die Presse“ erstmals erschien. Und sie stellt sich heute mehr denn je. In unserem Schwerpunkt zum Jubiläum blicken wir zurück und nach vorne.

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