175 Jahre „Die Presse“

Das Wunder des Sehens

Clemens Fabry
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Optik. Wer betrachtet und nicht nur sieht, selektiert und ordnet ein, ist fasziniert, überrascht oder enttäuscht. Die Erwartungshaltung spielt dabei ebenso eine Rolle wie Kultur und Sozialisierung.

Die Freiheitsstatue in New York. Jeder kennt sie, hat sie schon einmal angesehen – im Fernsehen, in Magazinen und Reiseführern. Jeder hat also seine ganz eigene Vorstellung von dieser weltbekannten Sehenswürdigkeit. Warum das so wichtig ist? „Weil diese eigene Vorstellung von etwas, zum Beispiel der Freiheitsstatue, unvermeidbar die Wahrnehmung beeinflussen wird, sobald man es dann in natura betrachtet“, sagt Jürgen Sandkühler vom Zentrum für Hirnforschung an der MedUni Wien (auf dem Foto im 3D PicArt Museum in Wien).

Dem Betrachten geht das Sehen voraus, ein neuronaler Vorgang, der sich bei allen Menschen mehr oder weniger gleich abspielt. Dagegen schließt die unmittelbar anschließende Betrachtung Interpretationen, Bewertungen und Vergleiche ein – und ist somit ein zutiefst komplexer, sehr individueller Prozess, ein „Postprocessing des Sehens“, wie Sandkühler es formuliert.

„Beim Betrachten wird kontextualisiert, selektiert, unterdrückt, vermischt – teilweise bewusst, zum großen Teil aber auch unbewusst“, erklärt Sandkühler. Im konkreten Fall bedeutet das: Wer vor der Freiheitsstatue steht, kann seine Erwartungen an dieses Monument nicht ausblenden. Erinnerungen aus Filmen, dem Unterricht in der Schule und den Nachrichten beeinflussen die Wahrnehmung ebenso wie die Umstände vor Ort – also beispielsweise das Licht und die Stimmung, in der man sich gerade befindet. Manche sind dann überwältigt, weil all ihre positiv konnotierten Erwartungen erfüllt oder sogar übertroffen werden, andere wiederum enttäuscht, weil sie mit etwas anderem gerechnet hatten – etwa mit einer größeren, imposanteren Statue; oder mit einer anderen Wirkung der Statue auf sie. Wiederum andere nehmen sie gleichgültig zur Kenntnis und haben keine besonderen Emotionen, weil sie für ein Werk dieser Art nicht zu begeistern sind, aus welchen Gründen auch immer. Betrachten ist also ein vielschichtiges, geradezu rätselhaftes Phänomen, bei dem das Gehirn (für Sandkühler ein „Wunderwerk der Natur“, das noch längst nicht entschlüsselt wurde und wahrscheinlich nie restlos entzaubert werden wird) alle Register zieht. Während das Sehen automatisch erfolgt, kann man das Betrachten lernen und schulen. Am besten schon im Kindesalter, sagt der Neurophysiologe.

Wie? Indem Kindern die Gelegenheit geboten wird, sich mit Farben und Formen, Gemälden, Fotos und Skulpturen unter Anleitung zu beschäftigen und sich Gedanken dazu zu machen. „Welche Assoziationen haben sie, wenn sie ein Kunstwerk sehen? Was lösen Farben in ihnen aus? Mit welchem Eindruck verlassen sie ein historisches Gebäude? Sich mit diesen Fragen zu beschäftigen ist ein Training für das Betrachten und schult unsere Fähigkeit, das Gesehene auch zu begreifen“, sagt Sandkühler. „Ein Training, das Kindern am besten vorgelebt wird. Etwa, indem sie Künstlern bei der Arbeit zusehen und erleben, wie ein Werk entsteht. Das ist eine effiziente Methode, sie zu analytischem Sehen zu motivieren. Weg von sekundenschnellen ,Like/Dislike‘-Entscheidungen in sozialen Medien, hin zum tiefgründigen Beobachten.“

Die Zukunft des aufmerksamen Betrachtens

Hat sich der Prozess des Sehens und Betrachtens im Laufe der Jahrhunderte verändert? Im Wesentlichen nicht, meint Sandkühler und nennt Selfies als Beispiel. Diese Fotos, die in sozialen Medien veröffentlicht werden, hätten einen ähnlichen Zweck wie die aufwendig erstellten Gemälde von Herrschen vor Hunderten Jahren. „In beiden Fällen geht es darum zu zeigen, welchen Status man nach außen repräsentieren will. Dazu wird jeweils eine entsprechende, zeitgemäße bildhafte Symbolsprache verwendet“, sagt er. „Das kann – wie im Fall von Herrschern – mit Hilfe von Symbolen gemacht werden, die Macht, Reichtum oder Bedeutung und die Würde des Amtes verdeutlichen sollen, oder mit Symbolen, die Schönheit, Jugend, Partyspaß ausdrücken, wie das bei Selfies häufig zu beobachten ist.“ Verändert hätten sich zwar die Mittel der Selbstdarstellung, der Aufwand zu deren Herstellung und die Dauer ihrer Gültigkeit, aber am Grundprinzip hätte sich überraschend wenig geändert.

Es sei also davon auszugehen, dass sich die Mittel, Instrumente und Werkzeuge der bildnerischen Gestaltung auch künftig stark verändern werden, nicht aber die neuronalen Vorgänge des Sehens. Und selbst das Postprocessing des Sehens sei erstaunlich stabil. „Das Streben nach Veränderung, Fortschritt und neuen Impulsen wird uns jedenfalls auch weiterhin antreiben, neue Formen der bildnerischen Gestaltung zu finden, die für Staunen und Begeisterung sorgen“, sagt Sandkühler. „Und das bewusste, aufmerksame Betrachten wird ohnehin immer ein höchst persönlicher und einzigartiger Vorgang sein.“

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