175 Jahre „Die Presse“

Von Flugscham bis Fremdschämen

Martin Parr/Magnum Photos/PI
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Richtig Reisen. Was einst normal war, heute verpönt ist und bald Realität werden könnte.

Im Jahr der „Presse“-Gründung, 1848, besuchte Therese von Bacheracht Österreich und schilderte in ihrem Buch „Eine Reise nach Wien: Eine historische Reisebeschreibung aus dem Jahre 1848“ detailliert die Sehenswürdigkeiten vom Stephansplatz bis zur Gemäldesammlung des Herrn von Arthaber. Der Berliner Georg Reimer beendete seine „Naturwissenschaftliche Reise nach Mossambique in den Jahren 1842 bis 1848 ausgeführt“ und auch die erste Pauschalreise hatte bereits stattgefunden: Als 1841 ein Baptistenprediger namens Thomas Cook eine Bahnreise für 570 englische Arbeiter von Leicester nach Loughborough organisierte, in der die Kosten für Fahrt und Verpflegung inbegriffen waren. Gut 100 Jahre später begann der Massentourismus mit all seinen Folgen – von Bettenburgen bis zu frühmorgendlichen Besetzungen von Pool-Liegen durch deutsche Urlauber. Spätestens zu dieser Zeit entstanden auch die ersten Dos-and-Don‘ts-Listen, damals noch „Reise-Knigge“ genant. Die die p. t. Leser darüber aufklärten, dass man in Arabien nie mit der linken Hand zum Essen greift und die erwarteten Trinkgeldsummen auf der Welt unterschiedlich sind. Grundsätzlich galt das Reisen zunächst als Privileg der Wohlhabenden, weshalb man sich auch entsprechend kleidete – wenn auch im Charter-Flieger nicht mehr mit Hut und Handschuh wie einst im Zeppelin.

Olfaktorische Nachlässigkeit

Je häufiger und weiter gereist wurde, desto weniger elegant – um es vorsichtig auszudrücken – wurden die Kleidung wie auch das Auftreten der Reisenden. Spätestens ab den Interrailtickets der 1980er-Jahre galten nicht einmal mehr olfaktorische Mindeststandards, was mit der zunehmend enger werdenden Bestuhlung der Charter- wie Linienflieger belastend sein konnte. Allerdings im hinteren Teil des Fluggeräts kaum auffiel, weil sich dort die Raucher tummelten – die Älteren mögen sich noch erinnern.

Heute kaum noch vorstellbar – aber das gilt für viele Dinge rund ums Reisen, die einst so selbstverständlich waren wie sie heute undenkbar sind. Und die spannende Frage aufwerfen, was wohl in Zukunft verpönt sein wird. Schließlich galt es noch vor einer Dekade zumindest für die Masse noch als Zeichen eines kosmopolitischen Lebensstils, übers Wochenende nach Barcelona zu „jetten“ und Billigfluglinien wurden als die Demokratisierung der Weltgewandtheit gefeiert. Fünf Jahre später wurde der Begriff „Flugscham“ erfunden – und plötzlich sahen sich Eltern, die weiter mit ihren Teenagern urlauben wollten, statt nach Ibiza zu fliegen, mit der Bahn in ein nachhaltiges Hotel in Südtirol reisen. Heute befindet sich die Debatte irgendwo zwischen dem Nachhaltigkeitsbewusstsein, der postpandemischen Reiselust und dem alten Gedanken, dass das Erleben fremder Kulturen, die womöglich nicht mit der Bahn erreichbar sind, einen Wert hat. Ohne dass man jeden Monat zum Shopping in eine europäische Großstadt fliegen muss, und dort den Einheimischen durch das Nutzen privater Zimmervermittlungen den bezahlbaren Wohnraum streitig macht. Wie die Dinge zum 200-Jahr-Jubiläum der „Presse“ aussehen werden, sagen die Lager unterschiedlich voraus: Die einen hoffen, dass bis dahin Flugzeuge und Kreuzfahrtschiffe klimaneutral betrieben werden können; die anderen, dass die Menschen die Schönheiten der näheren Umgebung genießen, weil es die Ferne auf Instagram und TikTok zu sehen gibt.

Videos für die Wertschätzung

Auch für den Umgang mit den Menschen auf Reisen haben sich die Standards – glücklicherweise – weiterentwickelt. Wurden Stewardessen einst noch respektlos als Luft-Kellnerinnen behandelt, wissen heute auch angetrunkene Burschenvereine auf dem Weg nach – genau! – Mallorca von diversen Videos im Netz, wie unschön es enden kann, wenn man sich mit dem Flugpersonal anlegt. Und es darf vermutet werden, dass die Wertschätzung für die Flugbegleiter in Zeiten des Arbeitskräftemangels weiter steigen wird. Was hoffentlich auch für den Umgang mit den „Besuchten“ gilt. Wer einst den Umgang manchen Urlaubers mit den „Einheimischen“ miterleben musste, wusste, wie schmerzhaft Fremdschämen sein konnte, ehe das Wort „cringe“ überhaupt den deutschen Sprachraum erreicht hatte. Und genießt es heute, dass allein das Halten des Smartphones in Richtung der gefühlt Überlegenen dazu führen kann, dass diese sich zusammenreißen. Weil niemand mit der schäbigen Behandlung eines Dienstleisters „viral“ gehen möchte. Das darf auch gern so bleiben.

Jubiläum

Welche Zukunft haben Liberalismus und Meinungsfreiheit? Diese Frage stellte sich im Revolutionsjahr 1848, als „Die Presse“ erstmals erschien. Und sie stellt sich heute mehr denn je. In unserem Schwerpunkt zum Jubiläum blicken wir zurück und nach vorne.

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