175 Jahre „Die Presse“

Beichten der ihm anvertrauten Seelen

Getty
  • Drucken

6. Mai 1926. Ein Feuilleton zu Sigmund Freuds 70. Geburtstag, verfasst von seinem Biografen („Heilung durch den Geist“).

Der Mann, dessen festlichen Tag wir heute ehrfürchtig begehen, er ist einer der seltenen unserer unzulänglichen Zeit, dem die Gnade des schöpferischen Gedankens gegeben war.

Die Gedanken, die kühnen und oftmals genialen Deutungen, mit denen Sigmund Freud unsere Gegenwart beschenkt und herausgefordert hat, sind als Tat nicht mehr zu bestreiten und zu widerlegen. Sie sind lebendig und haben Leben gezeugt. Weit über Deutschland, über Europa, über unseren Kontinent hinaus gibt es kein psychologisches Denken mehr ohne oder gegen sie. Sie sind eingedrungen in alle Organismen der geistigen Welt: in Dichtung, in Philosophie, in der Ethik, ja selbst in der Form gewöhnlichen Umgangs und der Beziehung der Geschlechter ist ihre Spur deutlich zu erkennen. Der Sprache haben sie ihren zeugenden Trieb eingesenkt, Worte wie „Hemmungen“, „Verdrängungen“, „Vorlust“, gehen heute lässig und selbstverständlich, ihres Schöpfers längst unkund, von Mund zu Mund. Und sogar die ihn befeinden, stehen ihm gegenüber auf einem von ihm selbst gerodeten Terrain, in einem Reiche, das seine heroische Energie erst urbar und geistig wohnbar gemacht; sie werden darum seinen Namen tragen, diese Kämpfe, und nicht die seiner Gegner.

Alle Mächte hat Freud mit seinen Lehren gegen sich herausgefordert. Die Medizin, indem er die Seelenheilung nicht auf das klinische Diplom beschränkte und in die geheiligte Wissenschaft so dubiose Elemente wie den Traum gleichsam aus dem Altweiberhaus brachte. Die Pädagogik, indem er kühn die Sexualität, die unbewusste, bis in das früheste Kindesalter zurückschob. Die Künstler, indem er logisch unbarmherzig in ihre Sphäre griff. Die Gesellschaft, indem er zeigte, dass selbst im gehüteten Schloss der kultivierten Großstadtfamilie die Instinkte, die blutmächtigen der Urmenschen, immer wieder hervorbrechen. Die ganze Sinnlichkeit, indem er mit einer noch nie da gewesenen Freiheit die Urmacht der Triebe bloßstellte.

Freud hat alle herausgefordert

Nichts konnte diesen starken Geist, diesen unbeugsamen, bis zur Orthodoxie fanatischen Forscher jemals von dem selbst gebahnten Wege abdrängen. Gleichgültig gegen die Gleichgültigkeit, ehern gegen das Unverständnis der Zeit, hat er das Gebäude der Gedanken aus sich erhoben, in kleinem Kreise sokratisch wirkend und mitleidlos. 30, ja 40 Jahre übt und vertieft Sigmund Freud seine Methode, und hätte er die tausend und abertausend Beichten der ihm anvertrauten Seelen in der Schrift festgehalten, es gäbe kein Buch der Weltliteratur, das ihm dokumentarisch gleichte. Nie ermüdend, neben seiner Wissenschaft in großartiger Neugier alle Manifestationen des Geistes, der Kunst verfolgend, um in allen Beispiel und Beziehung zu seinen Ideen zu finden, herrlich vielfältig bei geradester Stoßkraft seiner zu Leben gewordenen Idee, bietet er noch einmal unserer verarmten und verspielten Zeit das Beispiel heroischer Aufopferung an die Idee und der Hingabe des Lebens an die selbst geschaffene Lehre – verehrungswürdige Erscheinung für alle, die dem Geistigen verschworen sind, höchster Ruhm dieser Stadt, dieses Landes und der neuzeitlichen Wissenschaft. Denn nur an solchen Gestalten gewinnt die Forschung wieder ihren majestätischen Sinn: dass der Geist, was er dem Lebendigen entrungen, zurückgibt an das lebendige Leben und der Gedanke, der einsam gestaltete, Eigentum und Erbe werde eines ganzen Geschlechts.

Stefan Zweig (1881–1942)

Der österreichische Schriftsteller tauschte sich intensiv mit Sigmund Freud aus und hielt auch dessen Abschiedsrede.

Jubiläum

Welche Zukunft haben Liberalismus und Meinungsfreiheit? Diese Frage stellte sich im Revolutionsjahr 1848, als „Die Presse“ erstmals erschien. Und sie stellt sich heute mehr denn je. In unserem Schwerpunkt zum Jubiläum blicken wir zurück und nach vorne.

>> Hier geht es zu den Geschichten der Jubiläumsausgabe
>> Bestellen Sie ein Exemplar der Jubiläumsausgabe im Presse-Shop

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.