175 Jahre „Die Presse“

Parole Erich!

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16. Oktober 1932. Er ist einer von ihnen. Natürlich ist er klüger als sie und erfahrener, aber im Übrigen ist dieser Erich Kästner ein gleich gesinnter, gleich gestimmter, gleich gerichteter Freund.

Wenn man von Erich Kästner nichts weiter wüsste, als dass er, um den Kindern das Denken schmackhaft zu machen, das Wort „Nachdenkerei“ erfunden hat, könnte einen das allein schon verstehen lassen, warum er der Lieblingsschriftsteller aller deutschen Kinder ist.

„Parole Erich!“, sagen sie. Sie halten ihn nämlich für einen Jungen. Jedenfalls wissen sie genau, dass er kein Onkel ist, kein Lehrer, kein Herr mit einem Umhängebart. Natürlich ist er klüger als sie und deutlich erfahrener, aber im Übrigen ein gleich gesinnter, gleich gestimmter, gleich gerichteter Freund. Nichts trennt sie von ihm. Er versteht ihren Bewegungsdrang, ihre Sensationslust, ihr Gemeinschaftsgefühl, er weiß, dass man sich seiner noblen Einfälle mehr schämt als seiner Übeltaten, und er weiß auch, wie schrecklich einem zumute ist, wenn man einen Sonntagsanzug anhat. Wie wichtig Autos, Motorräder, Staubsauger und Luftballons sind, ist ihm klar. Er selbst ist das Kind, welches am verhexten Telefon den Bürgermeister zwingt, „Am Brunnen vor dem Tore“ zu singen, er selbst ist einer der Detektive, die Emils gerechte Sache vertreten.

Der Dichter Kästner hat das Glück, seine Jugend treu im Gedächtnis bewahrt zu haben. Wenn er nicht selbst Emil und Anton und Gustav ist, so wäre er es doch gern. Es schmerzt ihn ordentlich, dass er vor 20 Jahren klein war und nicht heute. Denn unsere verflucht schlechte Zeit gefällt ihm doch besser als die seine. Freilich haben es die Kinder von heute nicht leicht. Doch sind ihnen viele kleine Freuden neuerdings erschlossen. Sie dies erkennen zu lassen, ihnen ihren Alltag zu zeigen, sie zu lehren, diesem jeden Reiz abzugewinnen, ihre Vorurteile zu bekämpfen, ihren Widerstand gegen alles Unsaubere und Zweifelhafte zu befestigen, in ihnen Hoffnungen auf eine selbst gebaute Zukunft zu erwecken – das ist sein Ziel. Er ist ein Tröster, der Erich Kästner. Das ist ihm umso höher anzurechnen, als er pessimistisch geboren ist und sehr genau weiß, dass, wer nicht zur Welt kam, nicht viel verloren hat. Auch steht riesengroß hinter allem, was er sagt, die Angst, dass es bald wieder einmal für Kinder statt der großen Ferien Weltkrieg geben könnte.

Der Held sind die Kinder selbst

Gerade deshalb vertritt er eine heroische Lebensauffassung. Deshalb macht er den Kindern nichts vor. Die gegenwärtige Welt ist schlecht, und der Mensch könnte leicht besser sein. Es gibt Armut und Lüge und sogar Verbrechen; es gibt Herrn Grundeis, der einen armen Knaben bestiehlt, und Fräulein Andachts Bräutigam, der gern einbricht, und Gottfried Klepperbein, der das Paradigma des Schweinehundes ist. Eine Menge hässlicher Dinge gibt es, da ist nicht dran zu tippen. Aber gerade deshalb darf man nicht verzweifeln. Man muss selbst besser werden, man muss sich um alle anderen kümmern, dann wird sich schon für alle eine Form finden, zu leben und leben zu lassen. Die Schrecknisse der Welt sind keine unübersteiglichen Hindernisse zum Glück. Man braucht auch kein Genie zu sein, die Welt braucht Männer, die einfach so fleißig, so anständig, so tapfer und so ehrlich sind wie der Emil und der Anton, und Frauen, so resolut, so liebenswürdig, so intuitiv wie Pünktchen. Mit solchen Kindern möchte Kästner zusammen eine neue Welt gründen.

Er macht aus dem Leben keine Schulausgabe für Kinder. Flott und amüsant, mit romantischer Sachlichkeit erzählt er ihnen in ihrer Sprache, von ihrem Gesichtspunkt aus gesehen, in ihrem Tempo Geschichten, die so wirklich sind, dass sie in der Zeitung gestanden haben. Und der Held dieser Geschichten sind sie selbst. In ihren Straßen spielt das moderne Märchen, und das ist das Lustige daran. Am Ende ist es ja auch für Pünktchen viel interessanter, an der Weidendammer Brücke zu betteln, als für Dornröschen, hundert Jahre auf einen langweiligen Prinzen zu warten.

Da er ohne Pathos, ohne Feierlichkeit auftritt und redet, nehmen sie ihm nicht einmal übel, wenn er ihnen moralisch kommt. Er hat eben so wie sie selbst eine heiße Sehnsucht, dass es auf der Welt richtig zugehe, und ärgert sich wahnsinnig über die dummen Menschen, die sich selbst und anderen das Leben so schwer machen. Die Kinder sind vollkommen seiner Meinung, da diese Moral von aller Erdenschwere befreit, heiter, selbstverständlich und vor allen Dingen zweckmäßig ist.

Was immer er erzählt, die Kinder hören es gern. Vor allen Dingen berauscht sie das Wie. Er spricht ja ihre Sprache; er schreibt, wie den Kindern der Schnabel gewachsen ist. Als man die schöne junge Jacky letzthin fragte: „Bist du verlobt?“, sagte sie ärgerlich: „Bitte, gebrauche keine so dicken Worte.“ Dicke Worte gebraucht Erich Kästner nie. Die Wucht des Gefühles, das bei ihm hinter allen Dingen steht, ist so groß, dass die Worte sich ducken und bescheiden müssen. Das Gefühl selbst lässt er, der Zeit angemessen, „getarnt“ auftreten, das heißt, er treibt eine durchsichtige, auch für den erwachsenen Leser reizvolle Gefühlscamouflage, bei der man nicht weiß, wo die Gêne aufhört und der Kunstgriff anfängt.

Die Kinder leben leidenschaftlich gern in der unfeierlichen und behaglichen Welt, die ihnen Kästner erbaut. Sie dürfen alles. Sie dürfen Kritik üben, aber sie dürfen auch begeistert sein, ja sogar gerecht. Trotz der sokratischen Methode, die Erich Kästner mit Vorliebe anwendet, verschmäht er es, ein Führer der Jugend zu sein. Er zieht es vor, ein Verführer zu sein. Ein Beispiel für die Faszination, die er übt: In einem Dörfchen, Katzhütte im Thüringer Wald, hatte sich eine Klasse aus pfennigweise gespartem Geld „Pünktchen und Anton“ gekauft. Leider war es schon der letzte Schultag, als der junge Lehrer mit der Vorlesung beginnen konnte. Gerade als Herrn Bremser ein Licht aufging, läutete die Schulglocke die großen Ferien ein. Aber damit war das Schuljahr noch nicht zu Ende. Denn die Kinder wollten keine Ferien, ehe sich Antons Schicksal vollendete. So fand der Lehrer, als er abends nach Hause kam, die ganze Klasse vor seiner Haustür. Sie verlangte stürmisch, dass das Buch noch heute zu Ende gelesen werde. Er las bis elf Uhr nachts. Erst als Anton und seine Mutter im Glücke saßen und Pünktchen daneben, gingen die Kinder schlafen.

Glücklicher Kästner! So viel Talent und ein solches Publikum!

Eugenie Schwarzwald

(1872–1940) Am Mädchenlyzeum der Pädagogin und Frauenrechtlerin auf dem Wiener Franziskanerplatz konnten erstmals auch Mädchen maturieren.

Jubiläum

Welche Zukunft haben Liberalismus und Meinungsfreiheit? Diese Frage stellte sich im Revolutionsjahr 1848, als „Die Presse“ erstmals erschien. Und sie stellt sich heute mehr denn je. In unserem Schwerpunkt zum Jubiläum blicken wir zurück und nach vorne.

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