175 Jahre „Die Presse“

Zügelung des Widerspruchsmonstrums

Winkler, Karl / ÖNB-Bildarchiv / picturedesk.com
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3. September 1891. Was behindert den Kampf um den Frieden? Das Gesetz der Trägheit, der geschürte Nationalhass und die Hetze der am lautesten lärmenden Partei in jedem Lande: der Kriegspartei!

Die Dinge stehen so: Millionenheere – in zwei Lager geteilt, waffenklirrend – harren nur eines Winkes, um aufeinander loszustürzen. Aber in der gegenseitigen zitternden Angst vor der unermesslichen Furchtbarkeit des drohenden Ausbruchs liegt einigermaßen Gewähr für dessen Verzögerung. Hinausschieben ist jedoch nicht aufheben.

Die sogenannten „Segnungen“ des Friedens, welche das bewaffnete Angstsystem zu erhalten strebt, die werden uns immer nur von Jahr zu Jahr garantiert, immer nur als „hoffentlich“ noch einige Zeit vorhaltend hingestellt. Von der Abschaffung des Krieges, von der gänzlichen Aufhebung des Gewaltprinzips – davon wollen die zur „Aufrechterhaltung des Friedens“ waffenbrüderlich verbündeten Gewalten nichts wissen.

Der Krieg ist ihnen heilig, unausrottbar, und man darf ihn nicht wegdenken wollen; er ist ihnen aber auch – angesichts der Dimensionen, die eine künftige Konflagration entfalten wird – furchtbar, vor dem eigenen Gewissen unverantwortbar, also darf man ihn nicht anfangen.

Was ist das aber für ein unnatürliches Ding, welches nicht aufhören und nicht anfangen, nicht verneint und nicht bejaht werden darf? Ein ewiges Vorbereiten auf das, was durch die Vorbereitung vermieden werden soll, zugleich ein Vermeiden dessen, was durch die Vermeidung vorbereitet wird? Dieses Widerspruchsmonstrum erklärt sich so: Jenes Gebilde aus historischen Zeiten, welches man noch aufrechterhalten will: die gebietsverschiebende, machtverleihende, nur einen Bruchteil der Bevölkerung in Anspruch nehmende „frische und fröhliche“ Kriegsführung, die ist inzwischen im Entwicklungsgang der Kultur zur moralischen und physischen Unmöglichkeit geworden.

Moralisch unmöglich, weil die Menschen von ihrer Wildheit und Lebensverachtung verloren; physisch unmöglich, weil die während der letzten zwanzig Jahre angewachsene Zerstörungstechnik den nächsten Feldzug zu einem Etwas gestalten würde, das etwas anderes, etwas ganz Neues, nicht mehr mit dem Namen Krieg zu Bezeichnendes wäre. Würde man durch lange Stunden sein Bad vorbereiten, das Wasser heizen, heizen, bis es siedet und überwallt – wäre dann dasjenige, das einen träfe, der endlich doch in die Wanne stiege – oder vielmehr hineinfiele –, noch ein Bad zu nennen?

Neue Mordmaschinen-Erfindungen

Nach ein paar Jahren solch aufrechterhaltenen Friedens, solcher Mordmaschinen-Erfindungen – elektrische Sprengminen, ekrasitgeladene Lufttorpedos – und am Tage der Kriegserklärung springen sämtliche Zwei-, Drei- und Vierbunde in die Luft.

Jeden Augenblick kann die Explosion kommen. Diejenigen, die die Lunte in Händen haben, geben zum Glück acht. Sie wissen, dass – bei solchem Pulvervorrat – die Folgen schrecklich wären, wenn sie unvorsichtig oder gar freventlich Feuer anlegten. Um also die wohltätige Vorsicht zu steigern, wird der Pulvervorrat immer vergrößert.

Wäre es nicht einfacher, freiwillig und übereinstimmend die Lunten wegzutun? Mit anderen Worten: abzurüsten? Den internationalen Rechtszustand einzusetzen – die getrennten Gruppen, die einander stets zuschwören, dass sie, wenn sie von der anderen Gruppe angegriffen, Schulter an Schulter kämpfen wollen, zu einer Gruppe zu verschmelzen – und den Bund der zivilisierten Staaten Europas zu gründen? Ebenbürtig an Kraft und Ansehen stehen sich jetzt die verschiedenen Allianzen gegenüber. Was hindert sie daran, das, was sie als ihr Ziel hinstellen – den Frieden –, zur Grundlage ihres Bestehens zu machen? Was daran hindert? Das Gesetz der Trägheit einerseits und der geschürte Nationalhass, die von der lärmendsten Partei in jedem Lande – der Kriegspartei – stets unterhaltene Hetze. Die lärmendste wohl – dabei aber doch die kleinste.

Ein Häuflein Chauvinisten hier und dort. In Russland eine Gruppe Panslawisten – der Zar will den Frieden; in Frankreich eine Gruppe Revanchisten – die Regierung will den Frieden; bei uns und in Deutschland ein paar Militaristen – die beiden Kaiser wollen den Frieden. Das Volk gar nicht zu erwähnen: Das hat die Sehnsucht nach, das hat ein Recht auf Frieden.

Das Kampfgenossenschaftsgeschrei, welches bei verschiedenen Flottenbegrüßungen hier und dort ausgestoßen wird und welches so leicht für den Kriegswillen der Völker ausgelegt werden kann, sollte man doch nicht länger so verstehen. Hat man denn noch immer nicht einsehen gelernt, dass es nichts Epidemischeres gibt als Hurra- und Vivat-Rufe? (. . .) Klein also, das steht fest, ist die Zahl derer, die den Kriegszustand noch wollen. Noch kleiner die Zahl derer, die sich laut und im eigenen Namen zu solchem Willen bekennen. Unendlich groß hingegen sind die Massen jener, die den Frieden – nicht den ängstlich verlängerten, sondern den sicher gewährleisteten Frieden – ersehnen.

Wer da die weiße Fahne schwingt, der hat eine Gefolgschaft von Millionen hinter sich. Unter diesen Millionen ist aber die Zahl derer noch gering, die sich zusammengeschlossen haben, um ihr Ziel zu verkünden und ihm in gemeinsamer Arbeit entgegenzusteuern. (. . .) Die Friedensbewegung hat in den letzten Jahren eine ungeahnte Beschleunigung und Ausbreitung angenommen. In den breitesten Schichten des Volkes und unter den Spitzen der macht- und einflussreichen Klassen zählt diese internationale Vereinigung ihre Anhänger.

Dass die ganze Sozialdemokratie – ohne sich der Liga anzuschließen – ein gleiches Ziel, „Abrüstung und Schiedsgerichte“, in ihr Programm aufgenommen hat, ist bekannt; ferner haben sich in den verschiedenen europäischen Parlamenten permanente Friedensklubs gebildet, welche es sich zur Aufgabe stellen, die in den „interparlamentarischen Konferenzen“ gefassten Beschlüsse als Anträge ihren Regierungen zu unterbreiten. Zur nächsten Konferenz in Rom werden fast sämtliche europäischen Parlamente Delegierte entsenden. Im Anschluss an diese nur von Politikern besuchte Konferenz wird der große internationale Kongress stattfinden, an welchem sich die Delegierten aller bestehenden Friedensgesellschaften beteiligen werden.

Es lässt sich voraussehen, dass bei diesen Anlässen eine gewaltige Manifestation für das Prinzip der internationalen Gerechtigkeit von Rom ihren Ausgang nehmen und im übrigen Europa nachhallen wird – lauter hoffentlich als die verflossenen Hetz- und Trutzstimmen, welche anlässlich von Flottenbegrüßungen unseren Weltteil beunruhigt haben.

Wenn bis dahin die durch Angst gebändigte, aber leider stets aufgestachelte Kriegsfurie noch nicht losgelassen, wenn der gegenwärtige Kriegsvorbereitungszustand – denn Frieden kann man das doch nicht heißen – so lange und dann noch zwei oder drei Jahre anhält, so ist es noch möglich, dass die zivilisierte Menschheit noch rechtzeitig und freiwillig das Riesenunglück und die Riesenrevolution abwenden wird, die sonst über uns hereinbrechen müssen. Dann erst könnte eine neue, von aller Barbarei befreite Ära ihren Anfang nehmen.

Kooperation der Friedensanhänger

Damit aber diese Sehnsucht sich erfülle, damit der Eintrachtswille der Völker sich betätige, muss er sich vor allem kundtun. Darum ist es notwendig, dass überall dort, wo Friedensanhänger existieren, diese sich auch öffentlich als solche bekennen und nach Maßstab ihrer Kräfte an dem Werke mitwirken.

Dass es in Wien, in Österreich, zahllose Leute gibt, die mit dem vom römischen Kongress erstrebten Ziele übereinstimmen, ist zweifellos; aber sie haben sich noch nicht zusammengeschlossen. Es besteht noch keine österreichische Zweiggesellschaft der allgemeinen Liga; und würde bis November keine solche ins Leben treten, so wären von den Kulturstaaten Europas Russland und Österreich-Ungarn die einzigen, die beim Kongress unvertreten blieben, was zu dem falschen und der Friedenssache schädlichen Schluss berechtigen würde, dass wir den internationalen Frieden nicht wollen.

(. . .) Gerade für sie – die Volksboten – ist es notwendig, dass sie nicht isoliert auftreten, sondern hinter sich eine breite Schicht der Bevölkerung haben, die den auf die Konferenz folgenden Kongress beschickt und die an sie entfallenden Aufgaben – Propaganda, Einfluss auf die Jugenderziehung, Heranziehung der Presse und Kanzel, ununterbrochene Fühlung mit den Schwestergesellschaften usf. – planmäßig ausführt.

Noch einige Wochen vor der Eröffnung des Kongresses muss diese Sache zustande gebracht sein. An alle jene, die sich anschließen wollen, ergeht, ihren Namen und Wohnort einzusenden und zwar unter der Adresse der Verfasserin, welche zu diesem Appell an ihre Landsleute durch den leitenden Ausschuss des römischen Kongresses offiziell ermächtigt worden ist.

Bertha von Suttner (1843–1914)

Mit ihrem 1889 veröffentlichten pazifistischen Roman „Die Waffen nieder“ wurde sie zur Weltberühmtheit. 1905 erhielt sie als erste Frau den Friedensnobelpreis. Der hier abgedruckte Text aus dem Jahr 1891 führte zur Gründung der Österreichischen Gesellschaft der Friedensfreunde; Bertha von Suttner war deren erste Präsidentin.

Jubiläum

Welche Zukunft haben Liberalismus und Meinungsfreiheit? Diese Frage stellte sich im Revolutionsjahr 1848, als „Die Presse“ erstmals erschien. Und sie stellt sich heute mehr denn je. In unserem Schwerpunkt zum Jubiläum blicken wir zurück und nach vorne.

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