175 Jahre „Die Presse“

Ein Roboter wird lästig

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Sonntag in der Stadt: da eine fliegende Drohne, dort ein Mensch mit externer Selfie-Kamera in der Frisur eines Passanten. Aber auch eine Fülle verschiedener Roboter ist zu sehen: ein Humanoider, ein Kismet. Und wer aus gutem Haus ist, besitzt ein Exoskelett.

Wieder geht eine künstliche Sonne auf, wieder flackert ein Bildschirm.

„Mina, es ist acht Uhr fünfzehn!“

Mina seufzt, rollt sich von einer Ecke ihres Bettes zur anderen. Es hilft nichts: Teddy Macho, ihr kuscheliger Wecker aus Plüsch, einer der neuesten und teuersten Cyborgs auf dem Markt, bleibt hartnäckig.

„Auf, Miss Mina!“

Die junge Frau steht auf und sieht sich traurig um. An Sonntagen wird einem immer bewusst, dass man alles hat und außerdem ewig leben wird. An Sonntagen weiß man, dass man nichts zu verlieren hat. An Sonntagen ist das Leben ein ewiges Videogame, und man programmiert sich seine perfekte Welt. Langweilig, denkt Mina, während sie sich auf die Schaltfläche stellt, die langsam zu dem Sitz in ihrem Exoskelett hochfährt. Zugegeben: Minas zweiter, optimierter und über drei Meter großer Körper hat es in sich. Er besteht aus riesigen stählernen Fangarmen, starken Füßen und einer externen Kamera, die Mina hilft, mittels eines in ihrer Schaltfläche befindlichen kleinen Bildschirms die Welt um sich herum wahrzunehmen. Mit einem Mausklick fährt sie ihre kranartigen Arme aus, um die Zimmertüre zu öffnen. So stapft sie in die Küche. Rasch nestelt ihr externer Monsterkörper nach einigen Pillen, die auf dem Tisch liegen – Endorphine mit Erdbeergeschmack, reines Erbsenprotein, eine Magnesiumtablette –, Mina lenkt sie mittels der Hebel in ihre Zentrale und schluckt sie dann. Stille. Sie überlegt. Was soll sie mit der restlichen Zeit ihres freien Tages anfangen?

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, beginnt Minas Roboter (und – wie bereits erwähnt – Wecker) Teddy Macho, in dessen Plüschhirn ein Chip steckt, der ihn zu einem steuerbaren Kuschelwesen macht, auf und ab zu springen.

„Karten spielen! Karten spielen!“, schnarrt er, besser gesagt, schnarrt der Algorithmus in ihm. Mina verdreht die Augen.

„Du gewinnst doch immer!“, seufzt sie.

„Eben!“, entgegnet der Cyborg, der trotz seiner klobigen Bewegungen fast charmant wirkt.

Und es stimmt: Grob kann man sagen, je enger man die Definition eines Spiels fasst, desto größer ist der Vorteil für den Computer. Zum Beispiel gelten beim Schach sehr starre Regeln, sodass der Gestaltungsspielraum für kreative Ideen stark eingeschränkt ist, wie Mina weiß. (Man kann nicht einfach neue Figuren hinzuerfinden etc.) In solchen Situationen sind Computerhirne – auch wenn sie in süßen Teddyköpfen stecken – nicht mehr zu schlagen.

Aber Mina ist zum Glück Forscherin, und sie weiß: Ein Mensch mit seiner Erfahrung, Intuition und Kreativität kann Probleme lösen, die derzeit noch weit außerhalb der Reichweite von künstlicher Intelligenz liegen.

Mina atmet tief ein und aus.

„Lass uns ein wenig spazieren gehen!“, meint sie schließlich.

Der kleine Kuschelbär wackelt traurig mit den Ohren, klettert jedoch auf das Stahlgerüst, das Mina wie eine schützende panzerartige Hülle umgibt, und landet mit einem Plumps in der Schaltzentrale. Wieder fährt Mina ihre Fangarme aus und lässt das Exoskelett, das sie schützend umschließt, weiterstapfen. Draußen ist es hell. Eine Stadt, die stumm ist, denkt Mina, während sie in ihrer Karosserie durch die Peripherie schwankt. Aber das kommt ihr nur so vor. Denn Mina ist oben. Hoch oben. Zugegeben: Es ist geil, einen drei Meter großen Körper zu besitzen, denkt sie und ist stolz auf ihr Exoskelett. Noch immer kann sich nicht jeder so ein schalldichtes Gefährt leisten, viele Menschen sind trotz Pandemie, Smog und der immer wieder drohenden Fluten – vor etwa 120 Jahren ist das Klima des Planeten gekippt, wie Minas Uroma ihr mal erzählt hat – zu Fuß unterwegs. Mina fokussiert den Screen, streckt ihre Finger aus, tippt. Doch: Was ist das?

Mina fällt auf, dass sie den Charger für das Exoskelett nicht am Arm trägt. Sie hat ihn daheim liegen gelassen. Und siehe: Mit einem Ruck, gefolgt von einem kurzen knirschenden Sound, bleibt ihr großer externer Körper stehen.

„Verdammt!“

Mina kaut an der Unterlippe herum und überlegt. Teddy Macho wird inzwischen unruhig.

„Weitergehen, weitergehen!“, jammert er, vielmehr: jammert die KI in ihm, und Mina gibt sich geschlagen, beschließt, das Exoskelett neben einer Drohne zu parken – und schlendert dann mit dem kleinen Kuscheltier durch die Stadt.

„Toll!“, ruft der Mini-Roboter, den es sichtlich freut, mal was anderes zu erleben. Mina nickt beklommen und sieht sich um. Die Größe der Stadt raubt ihr jetzt, da sie selbst um etwas mehr als drei Meter geschrumpft ist, den Atem. Ein Geflecht aus Häusern, Straßen und Alleen fächert sich vor ihrem Blick auf, und reges Treiben scheint in all den Gassen zu herrschen, die sich schlangenartig zwischen den Häuser durchziehen.

So viel Leben auf einmal habe ich noch nie gesehen, denkt Mina. Also: real jetzt, nicht auf dem Bildschirm. Da eine fliegende Drohne, dort ein Mensch mit externer Selfie-Kamera, die voll in die Schädelstruktur und die Frisur des Passanten integriert zu sein scheint. Aber auch eine Fülle verschiedener Roboter ist zu sehen: ein Humanoider, ein Kismet – Mina schluckt.

Das Straßengewirr der Innenstadt bereitet ihr richtig Kopfweh. Toller Sonntag! Rasch und ohne in die Augen der anderen zu sehen – denn Mina, die ihren Alltag meist auf Zoom verrichtet oder im Exoskelett durch die Welt stapft, schließlich ist sie aus gutem Haus –, geht hinter ihrem kleinen Plüschfreund, der sie an der Hand hält und mitzieht wie ein kleines unruhiges Kind, an den Menschen- und Humanoidentrauben vorbei. Dabei muss sie aufpassen, dass sie nicht von irgendjemandem platt getreten wird – denn sie ist, da sie evolutionstechnisch aus einem Geschlecht der Denker stammt, klein und zart.

„Angst?“, meint Teddy Macho da, als sie sich zitternd an seinen winzigen Körper herandrängt.

Mina schürzt trotzig die Lippen, schweigt.

„Nun“, meint der Teddy da achselzuckend, „du wirst dich schon noch an die Stadt gewöhnen!“

Verdammt, denkt Mina, hätte ich ihm bloß nicht meinen eigenen neunmalklugen Charakter einprogrammiert. Doch sie nickt nur, reißt sich zusammen. Aber als sie und Teddy Macho wenig später ein riesiges Kaufhaus betreten, wird ihr ganz schlecht. Überall sind Wesen aus Plastik und Plüsch zu sehen, zum Teil abgepackt, zum Teil lose herumstehend. Manche machen Geräusche, wenn man Knöpfe in ihrem Nacken betätigt, und springen hin und her, andere können sogar pissen. Mina ist paralysiert. Teddy Macho indes scheinen diese Dinger, die aus den grässlichsten Materialen bestehen, gut zu gefallen.

„Haben!“, ruft er und drückt eines der Kuschelmonster fest an seine Brust.

Dann hält Teddy Macho Mina ein, wie diese feststellt, grässliches Ding vor die Augen und sagt: „Liebhaben!“

Das ist zu viel für die junge Forscherin. Sie kann nicht mehr an sich halten und schreit, schreit so laut, dass sich alle nach ihr umdrehen.

„Du spinnst doch! Du bist selbst ein Roboterspielzeug! Man kann einem Spielzeug kein Spielzeug kaufen!“

Als Teddy Macho zu weinen beginnt, kommt ein Verkäufer in seiner Drohne herbeigerast.

„Kann ich helfen?“, fragt er. „Was suchen Sie?“

„Auf jeden Fall nicht noch so ein dämliches Plastikviech mit einem Chip im Hirn, das biologisch nicht abbaubar ist!“, entgegnet Mina bitter. Der Mann nickt und blinzelt sie aus blauen Kontaktlinsen heraus an, die gute Laune machen.

„Vielleicht sind sie eher kulinarisch interessiert? Wir haben exotisches Obst vom Planeten Mystopia, Waschmaschinen mit Mikroplastikfilter, Biodünger aus Algen, Batterien aus Atommüll, Fassadenbegrünung für den Eigenbedarf und Pflanzliche Beschichtung gegen Foodwaste und . . . “

Mina unterbricht ihn scharf. „Danke“, sagt sie, „ich suche einen Charger für ein Exoskelett.“

Die Miene das Mannes verdüstert sich einen Moment lang.

„Die sind leider aus“, murmelt er.

Mina sieht sich um, sieht Bildschirme, durch die man virtuelle Kaufräume betreten kann, sieht libellenartige Drohnen, auf denen Kunden durch das riesige Gebäude rasen, sieht Menschen mit 3-D-Brillen, schwebende Einkaufswägen mit Propeller und auf Stelzen wandelnde Einkaufskörbe. In dem Moment meldet sich Teddy Macho wieder zu Wort.

„Haben will!“, ruft er, erneut auf eins der Plastiktiere, die fast so groß sind wie er, deutend – und Mina erinnert sich, dass sie das süße Tier einst gekauft und programmiert hat, weil sie in ihm einen effizienten Kind- und Partner-Ersatz sah. Doch jetzt reicht es. Sie streckt die Hand aus, klappt Teddy Macho den Hinterkopf auf und zerrt an den Kabeln, die in seinem Kopf verknotet sind, so lange, bis seine Augen zu klacken beginnen und ein Sirren ertönt, das langsam auf und ab ebbt. Dann: nichts mehr.

Die Augen des Verkäufers klappen auf und zu.

„Sie – haben ihn getötet!“, sagt er leise.

Mina verdreht die Augen.

„Wie kann man wen töten, der nicht lebt?“, fragt sie.

„Entschuldigung, aber Roboterrechte gibt es bereits seid 2018, also über 175 Jahre!“, empört sich der Verkäufer da – und wendet sich angewidert ab. In Mina bleibt ein flaues Gefühl zurück.

Sophie Reyer

Geboren 1984 in Wien. Studierte Germanistik in Wien, Komposition in Graz. Zuletzt erschienen: „Ein Schrei. Meiner“ (Czernin).

Jubiläum

Welche Zukunft haben Liberalismus und Meinungsfreiheit? Diese Frage stellte sich im Revolutionsjahr 1848, als „Die Presse“ erstmals erschien. Und sie stellt sich heute mehr denn je. In unserem Schwerpunkt zum Jubiläum blicken wir zurück und nach vorne.

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