175 Jahre „Die Presse“

Die hat ja nicht einmal eine Glaskugel!

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Wollen Sie, dass ich Ihre Aura lese?“, fragt die Wahrsagerin. „Bitte nicht!“, wehre ich ab. „Sie haben eine schöne Aura und werden ein langes Leben haben“, ruft sie mir noch nach. Würde ich denn wissen wollen, wie alles weitergeht, die nächsten 175 Jahre?

Im Jahr 2198 wird vieles anders, aber manches doch gleich geblieben sein“, raunt mir auf der Döblinger Hauptstraße eine Frau ihre Prophezeiung entgegen, während ich, soeben aus der Straßenbahn gesprungen, zur Bäckerei laufe für zwei Briochekipferl mit weißem Zuckerstreusel. „Wollen Sie, dass ich Ihre Aura lese?“, schickt sie als Frage hinterher. „Bitte nicht!“, wehre ich ab. „Sie haben eine schöne Aura und werden ein langes Leben haben“, ruft sie mir noch nach. Würde ich wissen wollen, wie alles weitergeht, die nächsten 175 Jahre?

Die Zeiten ändern sich, mit ihnen Medien und Möbel. Vor 175 Jahren fläzte man sich auf eine schon etwas fadenscheinig gewordene Biedermeier-Chaiselongue, die bald ausrangiert werden würde. Man las seinen Stifter und sinnierte über das Theaterstück von Johann Nestroy, das in Wien gerade erst gegeben wurde: „Freiheit in Krähwinkel“. Man griff nach einer der vielen Tageszeitungen, die in dieser Zeit erschienen sind, oder nach einem Flugblatt, und streckte und dehnte die Beine in den engen Pantalons.

Das Möbelmuseum im siebten Wiener Gemeindebezirk, an den Ausstellungswänden die farbenfrohen Papiertapeten aus dem 19. Jahrhundert, zimmert aus dem Wahnsinn dieser Jahre einen kompakten Satz: „Die Napoleonischen Kriege, der Wiener Kongress 1814/15, die politische Neuordnung Europas, der aufkommende Nationalismus, die polizeistaatlichen Maßnahmen Metternichs, die beginnende industrielle Revolution, der Wandel von einer feudalen zu einer bürgerlichen Gesellschaft, das alles bildete jenes hochexplosive Gemenge, das sich schließlich in der Revolution 1848/49 entlud.“ Wir ziehen Schlüsse vom öffentlichen auf den privaten Raum: Die Möbel wurden, auch als Reaktion, in ihrer Form nun klarer und schlichter (und bald darauf wieder pompös), die Textilien dagegen, für unser heutiges Empfinden, beinah poppig und bunt.

Punkt statt Fragezeichen

„Wer weiß“, flüstert die Wahrsagerin auf der Döblinger Hauptstraße verheißungsvoll, „vielleicht werden wir keine Möbel mehr benötigen in der Zukunft?“ Ich antworte nicht, schon will sie über Stoffbezüge sprechen: „Oder alles ist weiß, und wir tragen eine Brille, die die Umgebung einfärbt, wie wir sie uns aussuchen.“ An traurigen Tagen bunt, an fröhlichen vielleicht etwas blasser?, frage ich mich im Stillen. Die Wahrsagerinnen von morgen benutzen wohl auch keine Zauberkugeln mehr.

Kann denn die Rückschau behilflich sein beim Versuch, vom Jahr 2023 aus die Zukunft zu entwerfen? Das erste Bild wäre ja bereits im Verhältnis zur Gegenwart zu adaptieren und zu ergänzen: Auf ein Sofa in gedeckten Farben setzen wir diesmal eine Frau. Eine, die an einer öffentlichen Universität hat studieren können? Ihre Mutter ist vielleicht noch Verkäuferin gewesen. Ihr Vater vielleicht Arbeiter oder Angestellter. Sie ist womöglich auch nicht hier aufgewachsen, sondern kam erst später nach Wien. Ihre Beine stecken in elastischen Yogahosen, ihre beweglichen Finger wischen täglich über Touchscreens: Die Tageszeitungen, es gibt nicht viele davon, liest sie auf dem Smartphone, die Bücher noch in gebundenen Ausgaben.

Ob sich die Geschichte wiederhole, wird als Frage in diesen Tagen wieder häufig gestellt. Der Krieg in der Ukraine, Pandemie und Inflation, der aufkommende Nationalismus, die digitale Revolution, der Wandel der Gesellschaft. Was lässt sich daraus für die Zukunft zimmern?

„Gibt es keine Kriege mehr“, sagt die Wahrsagerin und setzt einen Punkt, wo ein Fragezeichen käme. Ich weiß nicht, ob ich ihr glauben soll. Ich möchte ja so gern an das Gute glauben, um nicht zu verzweifeln. Und erinnere mich, gerade jetzt wieder: Als ich 14 Jahre alt gewesen bin, habe ich mir von Greenpeace eine Landkarte zuschicken lassen, auf der alle Atomkraftwerke Europas verzeichnet waren. Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl 1986 war erst wenige Jahre her, und sie hatte damals meine kindliche Wahrnehmung von Welt (und Politik) ordentlich ins Wanken gebracht. Während ich im Gehen daran denke, sehe ich, wie weißer Zuckerstreusel auf meinen leichten Sommermantel bröselt. Mit den Sorgen um den sogenannten Umweltschutz war ich damals als Teenager in den Neunzigerjahren in meiner Schulklasse recht allein.

Moden haben die Tendenz, sich zu wiederholen. Als Zitat, als Spiel und als Bezugnahme. In der Weltgeschichte würden sich Tatsachen und Personen zweimal ereignen, heißt es in einer Schrift von Karl Marx, die 1852 erschienen ist, also just in jenen Jahren des Nachmärz, wie sie oben mit Blick auf Österreich und den Herrn auf der Chaiselongue beschrieben sind. Weiter heißt es bei Marx, dass Hegel, der diese Wiederholung der Geschichte konstatiert hat, vergessen habe, anzufügen, sie ereigne sich „das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce“. Das zeitgenössische Feuilleton zitiert diesen Satz heute wieder gern, dabei machen wir doch die Erfahrung, dass sich Tatsachen und Personen zwar wiederholen, sich dies aber doch aufs Neue als Tragödie zeigt.

Am Montag, den 3. Juli 1848, hielt man also jenes gedruckte Blatt in Händen: „Die Presse“, gegründet von August Zang nach französischem Vorbild. Unter den Namen der Zeitung setzte er folgende Zeile: „Motto: Gleiches Recht für Alle“. Die untere Hälfte der Titelseite grenzte sich durch eine grafische Trennlinie und die Bezeichnung „Feuilleton“ optisch ab. Die ebendort platzierte „Wochen-Chronik“ hob an: „Der Beruf des Feuilleton‘s“. Der Essayist Hieronymus Lorm kündigte eine Übersicht über die „historischen Ereignisse“ der laufenden Woche an, man wolle diese „hauptsächlich nur wie sie sich im Localleben Wiens spiegeln, dem Leser vorführen, und beginnen mit dem aufrichtigen Geständnisse, daß die Gründung unseres neuen Tagesblattes: ,Die Presse‘ uns die allerwichtigste Begebenheit scheint, in Bezug auf Völkerwohl, Industrie, Handel, Freiheit u.s.w., die seit langem in Europa vorgekommen“.

Völkerwohl? Industrie, Handel, Freiheit? Schnellen Schrittes eile ich von der Bäckerei weiter Richtung Casino Zögernitz, wo ich in eine kleine Gasse abbiege. Europa, denke ich. Und wie dieses Europa, als Bund, als Idee, für viele Menschen auch immer so etwas wie ein Ausblick war, vor 175 Jahren genauso wie heute. Wenn das Casino Zögernitz, übrigens 1837 erbaut, noch immer steht, dann steht in 175 Jahren vielleicht auch noch etwas von den Dingen, die uns jetzt umgeben? „Nicht so sicher!“, murmelt die Wahrsagerin mit Zweifel in der Stimme. Ich entdecke den bunten Farbstaub, der an ihrer Bluse klebt. Wo kommt der denn her?

Im Feuilleton der Gründungsjahre der Zeitung sollten „individuelle Meinungen“ vorkommen, es fand sich Platz für „Mode- und Luxusgegenstände“ und den sogenannten Feuilletonroman. Norbert Bachleitner beschreibt in den „Mitteilungen der Gesellschaft für Buchforschung in Österreich 2009–10“ dieses Genre aus Sicht der Literaturwissenschaft: „Bevorzugt thematisieren sie ungelöste Konflikte in der Gesellschaft, auch Skandale und Kuriositäten (,faits divers‘) sind willkommen. Das Prinzip der Fortsetzung verbindet Roman und Nachrichten, auch Berichte über Prozesse, kriegerische Ereignisse und ähnliches erstrecken sich oft über Wochen und Monate.“

Man sieht nur, was man weiß

Wenn wir über Zukunft nachdenken, schreiben wir in Gedanken an so etwas wie an einem Fortsetzungsroman: Wir bauen auf Bekanntem und Bewährtem auf, auf Skandalen und Kuriositäten, auf Nachrichten, Prozessen und Kriegen. Die einen wollen an das Gute glauben, die anderen schlagen Alarm. Goethe, ein, zwei Generationen älter als die Gründer der „Presse“, beschrieb das in einem Brief an einen Freund einmal so: „Man sieht nur, was man weiß. Eigentlich: Man erblickt nur, was man schon weiß und versteht.“ Mich gemahnt dieser Satz an die Begrenztheit unseres Vorstellungsvermögens. Und er erklärt auch, weshalb die Science-Fiction aus den Sechzigerjahren eben nach Sechzigerjahre aussieht und gar nicht nach dem beschworenen folgenden Jahrhundert, wie es sich heute darstellt.

Welches Paradigma wird morgen gelten? Die Geistes- und Sozialwissenschaften beschäftigen sich seit mehreren Dekaden mit sogenannten Turns, also Wenden, ausgelöst durch die Änderung von Erkenntnismethoden. Als ich studiert habe, sprach man vom Cultural Turn, später ging es viel um den Iconic Turn, das Lesen von Bildern. Ich fläzte mich damals auf ein blaues Ikea-Sofa, das ich später, fleckig, auf einem Gehsteig im 15. Bezirk ausrangierte. Bei Sloterdijk ging es, in einer Trilogie, erschienen um die Jahrtausendwende, um Sphären, Blasen und Schäume, und heute sprechen wir jedes Mal, wenn es um die jungen Kämpferinnen und Kämpfer für eine bessere Zukunft ohne Klimakrise geht, von Klebstoff. Wenn ich mir die Zukunft vorstelle, wie wir wohnen, arbeiten und lesen werden, dann denke ich an etwas, das nicht haptisch oder physikalisch ist. Weil ich mir davon kein Bild machen kann, falle ich auf die alten Muster zurück: Vergangenheit und Gegenwart kleben wie Staub an meinen Fingern.

„Digital kommt von lateinisch digitus, Finger. Lustig, nicht?“ Diesmal muss ich der lästigen Wahrsagerin beipflichten. Die Finger bleiben uns wohl erhalten, auch wenn sich die Medien und Werkzeuge ständig ändern. Ich stelle mir manchmal vor, in der Zukunft würden wir die Information aus buntem Farbstaub ablesen. Mit unseren Fingern! Es ist eine komische Vorstellung, ein bisschen wie auf den Bildern des indischen Holi-Frühlingsfests, dessen Ritual, Farbpulver in die Luft zu werfen, seit etwa zehn Jahren von vielen jungen westlichen Musikfestivals kopiert wird. Ist das noch Mode oder bereits Appropriation? „Nicht so sicher“, zuckt die Wahrsagerin mit den Achseln. Besonders hilfreich ist diese Prophetin ja nicht. Aber auch sie kann nur sehen, was sie weiß. Und erblicken, was sie schon weiß und versteht. Wenn ich mich jetzt nicht unmissverständlich von ihr verabschiede, folgt sie mir noch in den weiß gekalkten Hausflur und fordert dort Geld von mir.

Teresa Präauer

Geboren 1979 in Linz. Sie schreibt für „Die Presse“ im Jubiläumsjahr den 52-teiligen Feuilletonroman „Lieferdienst Wien“.

Jubiläum

Welche Zukunft haben Liberalismus und Meinungsfreiheit? Diese Frage stellte sich im Revolutionsjahr 1848, als „Die Presse“ erstmals erschien. Und sie stellt sich heute mehr denn je. In unserem Schwerpunkt zum Jubiläum blicken wir zurück und nach vorne.

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