175 Jahre „Die Presse“

Wir alle werden dann C-Promis sein

Es tröstet mich, dass sich ein Dichter im Alten Rom zwar nicht über einen kaputten Geschirrspüler ärgern musste, aber doch über etwas Vergleichbares.

Am liebsten würde ich an dieser Stelle behaupten, dass die Technik nur das äußere Gerüst ist, das uns im Alltag unterstützt, während wir selbst unverändert bleiben. Es wäre für mich tröstlich, mir vorzustellen, dass der Mensch auch in 175 Jahren im Grunde noch derselbe sein wird wie heute oder in der Renaissance oder im Alten Rom, dass er immer noch ähnlich denken und fühlen und deshalb weiterhin gerne unsere Gedichte lesen, von unseren Romanen, Gemälden und Songs ergriffen sein wird. Leider bin ich mir nicht so sicher, ob das stimmt.

Die Technik hat das Potenzial, uns zu verändern. Sie nimmt Einfluss auf unsere Wahrnehmung, indem sie gewisse Fähigkeiten von uns trainiert und uns andere verlernen lässt, und ich bemerke die ersten Symptome bereits an mir selbst. Mit Erschrecken stelle ich fest, dass meine Aufmerksamkeitsspanne kaum noch ausreicht, mir einen Kinofilm von Anfang bis Ende anzusehen. Wenn ich als Zuhörerin einen öffentlichen Vortrag besuche, muss ich mich fast zusammenreißen, dass ich nicht mittendrin aufstehe und anfange, im Veranstaltungssaal zu putzen oder aufzuräumen, weil ich darauf konditioniert bin, Podcasts zu hören und daneben meine Hausarbeit zu erledigen. Wenn also sogar ich – als nicht besonders technikaffine Person – bereits im Jahr 2023 solche Probleme habe, wie soll ich dann hoffen können, dass Menschen in 175 Jahren noch ausreichend Geduld, Aufmerksamkeit und Muße haben werden, sich mit unserer Literatur, Musik und Kunst zu beschäftigen?

Aber vielleicht ist es unangebracht, dass ich mich von diesen Entwicklungen derart beunruhigen lasse. Vielleicht wäre es ja gar nicht so verkehrt, wenn künstliche Intelligenzen ausschließlich Bücher für künstliche Intelligenzen schrieben und die Menschen bloß deren Zusammenfassungen läsen und sich daran erfreuten. Alles, was an Büchern zugegebenermaßen mühsam und zeitintensiv ist, also das Schreiben und das Lesen, wäre an Maschinen delegiert, aber Literatur und die Diskussion darüber gäbe es ja trotzdem. Den Schriftstellern bliebe die unsägliche Mühsal der Deadlines erspart, und sie könnten ausschließlich das Königliche an ihrem Beruf genießen: Lesungen, Zeitungsinterviews, Podiumsdiskussionen, Poesiefestivals. Sie wären C-Promis, die nichts arbeiten müssten, und deren Aufgabe ausschließlich darin bestünde, sich feiern zu lassen. Das klingt doch im Grunde ganz gut! Warum also halte ich so sehr an der Vorstellung fest, der Mensch solle immer gleich bleiben?

Vermutlich macht mich am Ende doch der Gedanke zu traurig, dass die Verbindung restlos gekappt werden könnte, die mich in der Gegenwart immer wieder so zuverlässig mit der Welt versöhnt. Kaum etwas berührt mich stärker als die Lektüre eines jahrzehnte- oder jahrhundertealten Textes, in dem ich mich so deutlich wiederfinde, als wäre er zu meiner Zeit geschrieben worden. Es tröstet mich, dass sich ein Dichter im Alten Rom zwar nicht über einen kaputten Geschirrspüler ärgern musste, aber doch über etwas Vergleichbares, und dass er deswegen die Mühsal auf sich genommen hat, sich hinzusetzen und darüber zu schreiben.

Kann man sich von einem Kunstwerk aufgefangen und getröstet fühlen, wenn es von einer Maschine geschaffen wurde, die die Gefühle, über die sie schreibt, nur imitiert, aber nicht aus eigenem Erleben kennt? Es wäre ähnlich wie bei den gemachten Popstars, die im Playback ihre Lippen zu einem Song bewegen, den jemand anderer geschrieben hat. Es fehlt die Tiefe der Verbindung, es fehlt an der Authentizität der Geschichte, die mir erzählt werden soll. Den Verlust handgemachter, aus tiefen Seelenqualen entstandener Kunst würde ich dem Zukunftsmenschen nicht zumuten wollen.

Daniela Chana

Geboren 1985, lebt in Wien. Zuletzt ist der Erzählband „Neun seltsame Frauen“ (Limbus) erschienen.

Jubiläum

Welche Zukunft haben Liberalismus und Meinungsfreiheit? Diese Frage stellte sich im Revolutionsjahr 1848, als „Die Presse“ erstmals erschien. Und sie stellt sich heute mehr denn je. In unserem Schwerpunkt zum Jubiläum blicken wir zurück und nach vorne.

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