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Eliot Higgins: „Schreien auf Twitter ändert nichts“

Eliot Higgins
Eliot HigginsFabio De Paola / Guardian / eyevine
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Die Wahrheitsfinder. Eliot Higgins deckt mit seiner Organisation Bellingcat schwerste Kriegsverbrechen auf. Nun will er Jugendlichen mit Investigativtechniken helfen, nicht in Verschwörungstheorien zu stolpern.

Ein jugoslawisches Panzerabwehrrohr brachte Eliot Higgins erstmals auf das Titelblatt der „New York Times“. Im Frühling 2013 verlor das syrische Regime unter Präsident Bashar al-Assad nach und nach die Kontrolle an verschiedene Gruppen von Aufständischen. Denn die waren zusehends besser bewaffnet. Vor seinem Computer in der englischen Stadt Leicester, rund 4500 Kilometer von den Schauplätzen des syrischen Bürgerkriegs entfernt, verfolgte Higgins dies mit Adleraugen. Weder sprach er Arabisch, noch hatte er Zugang zu sensibler geheimdienstlicher Information. Vielmehr filmten die Syrer, ob Zivilisten oder Kämpfer, das Geschehen mit ihren Handys und stellten diese Aufnahmen ins Internet. Higgins hatte keine persönliche Erfahrung im Umgang mit Waffen. Doch nach neun Monaten täglichen Videostudiums abseits seines langweiligen Bürojobs fiel ihm auf, dass immer mehr Aufnahmen Aufständische mit einem ungewöhnlichen Panzerabwehrrohr zeigten: der M79 Osa, einst in Jugoslawien gefertigt und nach dessen Zerfall in den Beständen der Armeen Kroatiens, Serbiens, und Nordmazedoniens – aber nicht der syrischen Streitkräfte. Woher also hatten die Rebellen diese Waffe? Eine große Waffenschmuggelaktion, um Assad zu stürzen: Das wäre eine sensationelle Nachricht. Higgins veröffentlichte seine Rechercheergebnisse auf seinem Blog „Brown Moses“, benannt nach einem Song von Frank Zappa. Die „New York Times“ nahm Kontakt mit ihm auf, verifizierte seine Angaben – und fand die fehlenden Puzzlestücke: Ja, die Rebellen erhielten über Jordanien Waffen jugoslawischer Herkunft aus Kroatien, und zwar von Saudiarabien – mit stiller Duldung der US-Regierung. So landete Higgins‘ Name erstmals auf dem Titelblatt der „Times“, am 26. Februar 2013.

Von Assad über MH17 bis Frontex

Ein Jahrzehnt später sitzt er an einem drückend schwülen Junitag in seinem Arbeitszimmer am Stadtrand von Leicester und sagt: „Ich hatte keine Ahnung, wohin das führen würde. Ich sah bloß, dass Material aus offenen Quellen aus Syrien wertvoll war – und dass weder Medien noch Menschenrechtsorganisationen es nutzten, im Gegensatz zu Verschwörungstheoretikern, die behaupteten, die CIA habe ihre Finger im Spiel.“

Aus offenen, allen zugänglichen Quellen in den sozialen Medien verborgene Zusammenhänge und Beweise für Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen herauszufiltern: Diese journalistische Recherchedisziplin hat der 1979 geborene Higgins mit seiner Organisation Bellingcat zur Meisterschaft gebracht. Mit einem Netz freiwilliger Digitalspürnasen rund um den Erdball hat Bellingcat einige Mysterien aufgelöst, an denen sich sogar die schlagkräftigsten Nachrichtendienste die Zähne ausgebissen haben. Bellingcat fügte die Belege dafür zusammen, dass Assads Militär in Douma Zivilisten mit Giftgas ermordet hatte. Sie bewiesen, dass der Passagierflug MH17 über der Ostukraine von einem Boden-Luft-Raketensystem Buk der russischen Armee abgeschossen worden war (und fand auch die dafür verantwortlichen russischen Offiziere). Sie enttarnten das Killerkommando des russischen Militärgeheimdiensts GRU, welches im englischen Salisbury einen Anschlag mit dem Nervengift Nowitschok auf den ehemaligen russischen Doppelagenten Sergej Skripal und dessen Tochter Julia verübt hatten. Der Direktor der EU-Grenz- und Küstenwache Frontex, Fabrice Leggeri, musste zurücktreten, nachdem Bellingcat mit mehreren Medienorganisationen Belege dafür veröffentlicht hatte, dass Frontex bei illegalen Zurückdrängungen von Migranten in Griechenland mitmacht.

Bellingcat verdankt seinen Namen einer Fabel, in der Mäuse diskutieren, wie sie eine Katze unschädlich machen könnten. Eine Maus schlägt vor, der Katze ein Glöckchen umzuhängen, was ihr das lautlose Anschleichen verunmöglicht – und sie harmlos macht. „Belling the cat“: Welche Katzen müssten, um in dieser Bildsprache zu bleiben, noch mit Glöckchen versehen werden? „Sicherlich Russland“, sagt Higgins. „Schauen Sie nur, was in der Ukraine passiert. Die Russen verüben Kriegsverbrechen in enormem Ausmaß. Und das passiert auf dem Staatsgebiet eines Landes, dem es wichtig ist, dass es rechtliche Verantwortlichkeit gibt.“

Aber nicht nur das große Weltgeschehen bietet sich für diese kollaborative Spürnasenarbeit auf Basis offener Quellen an. Während der Pandemie beispielsweise gab es in Großbritannien das Phänomen, dass Hunde auf offener Straße gestohlen wurden. Bellingcat half verzweifelten Herrchen, ihre Lieblinge wiederzufinden: „Das ist enorm befriedigend, weil man so etwas Konkretes bewirkt und jemandem binnen weniger Tage helfen kann.“

„All diese Leute hassen mich heute“

Das ist mit den Beweisen von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen anders, wie das syrische Beispiel veranschaulicht. Vor zehn Jahren lieferte Saudiarabien noch Waffen an Assads Feinde. Heute treten Assad und der saudische Kronprinz, Mohammed bin Salman, gemeinsam in der Arabischen Liga auf. Ist es nicht frustrierend, dass der journalistische Beweis schwerster Staatsverbrechen folgenlos verpufft? „Darum ist der Aspekt der juristischen Verantwortung für mich so wichtig“, wendet Higgins ein. „Es ist eine Sache, zum Gegenstand journalistischer Berichterstattung zu werden. Aber wenn man persönlich vor Gericht auftreten muss, ist das schwerer zu ignorieren.“ Higgins hat den Internationalen Strafgerichtshof in technologischen Fragen beraten; die Ergebnisse von Bellingcat-Recherchen werden immer wieder als Beweismittel vor Gericht zugelassen: „Wir betreiben nicht nur Journalismus, sondern wir entwickeln Techniken und Werkzeuge, ganze Prozessabläufe für vielerlei Investigationen, auch für die Frage rechtlicher Verantwortlichkeit“, sagt Higgins.

Der Sohn eines Mitglieds der britischen Luftwaffe fand auf Umwegen zu seiner journalistischen Mission. Früh war er von amerikanischer Popkultur geprägt, hörte die Dead Kennedys und andere Punkbands, verbrachte viele Jahre in der Videospielszene und las linke Autoren wie Noam Chomsky. „Die Ironie ist: All diese Leute scheinen mich heute zu hassen“, verweist er auf den Umstand, dass er nicht nur von rechtsextremen, sondern auch von linksextremen Verschwörungstheoretikern als CIA-Strohmann denunziert wird, wenn er Verbrechen des Kreml oder Assads nachweist.

Higgins kann diese Leute aus eigener Erfahrung bis zu einem gewissen Grad verstehen: „Meine Teenagerjahre waren von den beiden Invasionen im Irak geprägt. 2003 war für mich entscheidend. So ein offensichtlicher Betrug des Vertrauens der Öffentlichkeit! Hunderttausende Menschen, die in London gegen den Krieg marschieren, und wir zahlen 20 Jahre danach noch immer den Preis für diesen Krieg.“ Das sei auch für viele Verschwörungstheoretiker die Stunde null gewesen: „Diese Leute sind nicht unter dem Einfluss russischer Propaganda. Im Gegenteil: Oft produzieren sie das Material, das russische Propaganda dann aufgreift. Das sind frei denkende, intelligente Menschen, die nach der Wahrheit suchen. Und sie sind der Ansicht, dass man wegen des Irak-Kriegs weder den Regierungen noch den Medien trauen kann. Wenn also die US-Regierung sagt, Syrien verwendet chemische Waffen, dann ist das für sie dasselbe wie 2003, als die US-Regierung sagte, Saddam Hussein besitze Massenvernichtungswaffen. Sie sehen dann alles nur mehr durch diese Linse.“

Generell, findet Higgins, mache man es sich zu leicht, hinter jeder Desinformation den langen Arm des Kreml zu wittern – auch 2016 bei der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten: „Man war so fokussiert auf russische Einflussnahme, dass man nicht sah, was das eigentliche Problem ist. Und das ist viel tiefer in der Gesellschaft verwurzelt, weshalb es einfacher ist, Russland die Schuld zuzuweisen, als sich zu fragen, wieso unsere Gesellschaft so geworden ist.“ Nämlich aus dem Empfinden heraus, von Politik und Medien betrogen zu werden.

Gegen das Gefühl, machtlos zu sein

Um dem entgegenzuwirken, arbeitet Bellingcat nun an einem Curriculum für 13- bis 18-Jährige, das kritisches Denken und Investigativtechniken lehren soll. „Unser Zugang ist: Wie schaffen wir es, die Leute in jüngerem Alter darin einzubeziehen, positiv auf die Dinge einzuwirken, die sie in ihrem Leben betreffen, die ihnen wichtig sind?“ Ein erstes Projekt, das Jugendlichen in einer englischen Stadt zeigte, wie sie behördliche Anfragen dazu nutzen konnten, Übergriffe der örtlichen Polizei transparent zu machen und mit lokalen Reportern eine öffentliche Debatte darüber zu lancieren: „An der Wurzel des Problems steht oft das Gefühl der Machtlosigkeit, des Kontrollverlusts“, gibt Higgins zu bedenken. „Das führt dann dazu, dass viele Leute sich ermächtigt fühlen, wenn sie auf Twitter andere anschreien. Aber dadurch ändern sie nichts.“

Eliot Higgins

gründete 2015 die Plattform Bellingcat, um kraft öffentlich zugänglicher Informationen im Internet Kriegsverbrechen von Libyen über Syrien bis in die Ukraine zu beweisen.

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