Leitartikel

Man soll Korane verbrennen dürfen, aber man soll es nicht tun

Man sollte die Rolle der Schrift im Islam kennen, um die Empörung über die Koranverbrennungen zu verstehen. Gutheißen muss man sie deshalb nicht.

„Viele aber, die Zauberei getrieben hatten, brachten die Bücher zusammen und verbrannten sie öffentlich. (…) So breitete sich das Wort aus durch die Kraft des Herrn und wurde mächtig.“ Diese Stelle aus der Apostelgeschichte schildert die Bekehrung von „heidnischen“ Zauberern zum Christentum. Sie enthält zwei Vorstellungen, die in der aktuellen Debatte über Koranverbrennungen aufflammen: den Glauben an die – magische und/oder heilige – Kraft geschriebener Texte, und die Idee, diese Kraft durch Vernichtung ihrer materiellen Basis zu bannen. Mit Papier geht das besonders effektvoll, mit Inschriften auf Stein weniger. Dennoch ließen schon ägyptische Pharaonen die heiligen Inschriften ihrer in Ungnade gefallenen Vorgänger zerkratzen. Das mag uns auch an die heutigen Attacken auf Denkmäler erinnern. Es ist aber mehr dahinter als der Versuch einer „damnatio memoriae“, wie es die Römer genannt haben. Mehr auch als an den abscheulichen, programmatisch geistfeindlichen Bücherverbrennungen der Nationalsozialisten.

Nämlich die Idee der Heiligkeit von Schriftzeichen. Sie war schon bei den alten Ägyptern verbreitet, darum tragen die Hieroglyphen ja auch ihren Namen. Aber essenziell wurde sie in den monotheistischen Religionen, das bezeugt etwa eine seltsame Passage aus dem Buch Ezechiel: Nach einer himmlischen Vision wird der Prophet von einer Stimme aufgefordert, eine Schriftrolle zu essen. „Da aß ich sie“, sagt er, „und sie war in meinem Munde so süß wie Honig.“ In einer Geschichte aus dem jüdischen Talmud wird ein Tora-Schreiber zur Vorsicht gemahnt: Wenn er nur einen Buchstaben auslasse, zerstöre er die ganze Welt.

Auch in christlichen Gottesdiensten spielt die Materialität der Bibel eine Rolle. Der katholische Priester küsst sie nach der Lesung; die Lutheraner singen in ihrer Hymne die Zeile „Das Wort sie sollen lassen stahn“, viele halten eine Familienbibel in hohen Ehren. Doch schon Luther wandte sich dagegen, die Bibel als „papierenen Papst“ zu sehen. Durch die historisch-kritische Bibelforschung ist im Christentum die Buchstabengläubigkeit großteils verloren gegangen, was kein Schaden ist. Im Islam ist sie noch höchst präsent. Was, wie etwa Navid Kermani festgestellt hat, auch bedingt, dass Übersetzungen des Korans aus dem Arabischen in eine andere Sprache für Muslime immer eine halbe Sache sind, die spirituelle Bedeutung hängt am Wortklang. Respektive an den Schriftzeichen. Viel von der Heiligkeit, die etwa orthodoxe Christen in ihren Ikonen spüren, steckt für Muslime im Koran.

Man muss das nicht verstehen, aber man sollte es wissen, wenn man die Empörung über Koranverbrennungen begreifen will. Es ist auch ein Grund dafür, dass das sakrale Revanchefoul „Verbrennst du meinen Koran, dann verbrenn ich deine Bibel“ nicht funktioniert. Der gläubige Muslim empfindet mehr Beleidigung dabei als der gläubige Christ, so irrational das uns vorkommen mag. Und noch viel mehr als ein Mathematiker, wenn man ihm seine Formeln zerstört. Die gut gemeinte Definition, jedem sei eben das heilig, woran sein Herz hängt, greift zu kurz. Wer die magischen Reste in den Religionen nicht wahrhaben will, versteht diese nicht wirklich. Sie transzendieren die Vernunft, das gehört zu ihrem Wesen. Was nicht heißt, dass die Vernunft sie – oder besser: ihre Praxis – nicht kritisieren darf, dass müssen die Religionen ertragen. Können sie auch.

Es gibt gute Gründe, vieles an der Praxis des Islam zu kritisieren, da reicht ein Blick in den Iran oder gar nach Afghanistan, wohl sogar ein Blick auf eine Frau, die in größter Sommerhitze einen Ganzkörperschleier tragen muss. Doch Beleidigung ist zur Untermauerung dieser Kritik gar nicht geeignet: Sie stachelt Gefühle auf, sie wirkt gegen die Vernunft, sie gießt Öl ins Feuer. Sollte es deshalb verboten sein, den Koran oder andere Heilige Schriften zu verbrennen? Nein, das sollte nicht nötig sein. Man sollte es nicht tun, es ist respektlos und unmoralisch, weil es andere Menschen sinnlos kränkt. Aber nicht alles, was unmoralisch ist, wird von unserem Recht als strafbar behandelt. Auch das ist eine Qualität eines säkularen Rechtsstaats. Er respektiert auch die Respektlosen.

E-Mails an: thomas.kramar@diepresse.com

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