Literatur

Gibt es noch das Gefühl von Ankommen?

Susanne Gregor, 1981 geboren in der Slowakei, lebt seit 1990 in Österreich.
Susanne Gregor, 1981 geboren in der Slowakei, lebt seit 1990 in Österreich.Foto: Barbara Wirl
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Susanne Gregors Roman ist geprägt von Aufbrüchen und Durchreisen, Rastlosigkeit und Neuanfang. Ihre Charaktere dirigiert sie mit ruhiger Hand.

Es ist Alans Verschwinden, das seine Familie aus der Bahn wirft. Ein Verschwinden, das zu einem Trauma wird, das präsent bleibt, auch als die Familie wieder zusammenkommt. Kurz vor der Wende flieht Alan aus dem tschechoslowakischen Žilina nach Deutschland, ohne eine Nachricht, nicht einmal eine Notiz zu hinterlassen. Er wollte seit Langem in den Westen, die Freiheit spüren und ein anderes Leben beginnen. Die Flucht ist schwierig, und sein neues Leben findet ein abruptes Ende, als er sich mehrere Brüche an der Schulter zuzieht und seinen Hilfsarbeiterjob aufgeben muss. Mittlerweile ist der Eiserne Vorhang gefallen, Alans Eltern und die jüngere Schwester Miša sind nach Wien gezogen. Kurze Zeit später ist die Familie wieder vereint. Zumindest körperlich: Sie leben zusammen auf engstem Raum, doch ihre Sorgen und Ängste teilen sie nicht mehr. Alan ändert sein Leben radikal und fängt ein Medizinstudium an. Aus einem Rebellen wird ein braver Student. Er achtet auf seine Kleidung, kommt pünktlich zum Unterricht und legt auf den richtigen Gebrauch der Artikel Wert. Das Dehnungszeichen seines Familiennamens streicht er, um bei Behördengängen nicht aufzufallen, und stürzt sich aufs Lernen. Seine Schwester Miša macht sich ebenfalls unsichtbar. Bloß nicht auffallen, nimmt sie sich vor, und sogar in der kleinen Wohnung schafft sie es, den anderen aus dem Weg zu gehen. Während Alans Karriere steil nach oben geht und er in der orthopädischen Abteilung des AKH arbeitet, driftet Miša planlos durchs Leben, landet zwischendurch wieder in ihrer Heimatstadt, um von dort nach Berlin zu ziehen. Die Geschwister entfernen sich immer weiter voneinander, verfolgen gegensätzliche Lebensentwürfe, verlieren den gemeinsamen Nenner.

Aus Susanne Gregors Roman „Das letzte rote Jahr“, der 2019 erschien, kommen einem die Figuren bekannt vor. Damals waren sie noch zehn Jahre jünger und erlebten das Ende des kommunistischen Regimes. Nun sind sie erwachsen geworden. Gregor wurde 1981 in Žilina geboren und lebt seit 1990 in Österreich. In „Wir werden fliegen“ schreibt sie über Zugehörigkeit und darüber, wie schwierig der Weg zu sich selbst sein kann, wenn die Heimat verloren ging. Alan, in dessen Traum der Westen ein Sehnsuchtsort war, wird zum Angepassten, zu jemandem, der österreichischer als die Österreicher sein möchte. Seine Schwester dagegen verliert sich zwischen all diesen Möglichkeiten, die sich ihr hier bieten, hat keinen klaren Lebensplan. „Fürs Erste sah sie sich als Studentin, als Bewohnerin einer verantwortungsfreien Zone, in der es nicht auf das Endergebnis ankam, sondern auf das große Ganze, nämlich das Lebensgefühl, möglichst lang nirgendwo fest anzukommen.“ Das ist gut beobachtet und wirft die Frage auf, ob das Studentenleben mit seiner Unverbindlichkeit der ideale Integrationsort ist, als der er gern erscheint.

Das Gefühl, endlich angekommen zu sein, bleibt aber auch Alan fremd. Oder gibt es das gar nicht mehr, dieses Ankommen? Alans Freundin Nora, Tochter eines Diplomaten, scheint sich im eigenen Land auch nicht mehr heimisch zu fühlen, und Mišas Bekanntschaften leben in den Tag hinein. Überhaupt ist der Roman voll von Aufbrüchen und von Durchreisen, vom Verlorengehen und Sich-Wiederfinden, von Rastlosigkeit und Neuanfang. Diese Brüche packt die Autorin aber immer sanft an, ihre Sprache scheint über die Grenzen hinwegzufließen, scheint alle Unebenheiten zu glätten. In Susanne Gregors Welt unterliegen Heimat, Sprache und Identität einer ständigen Wandlung, und sie dirigiert ihre Charaktere durch all die Hindernisse mit ruhiger Hand, als wäre der Weg tatsächlich das Ziel.

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