Was ist Avantgarde, was progressiv in Kunst und Politik? Zur Behauptung, die Salzburger Festspiele hätten einen „reaktionären Kern“.
Zu den wichtigen Ritualen rund um wichtige Festivals gehört die jährliche Sinnfrage – wozu das Ganze? Die Salzburger Festspiele vertrauten zu sehr auf „die immergleichen Namen mit denselben Operntiteln”, es sei dort „so schön, aber fad”, zu risikoarm, liest man vereinzelt in deutschen Feuilletons. Ein österreichisches Blatt ging einen Schritt weiter.
Dass Intendant Markus Hinterhäuser es nicht sinnvoll fand, die Festspielrede des mit der FPÖ koalierenden ÖVP-Chefs Wilfried Haslauer zu boykottieren, habe mit einem geschichtlich angelegten „reaktionären“ Kern der Festspiele zu tun. Sie seien „als Bollwerk gegen die Moderne” gegründet worden: „barockes Mysterienspiel gegen bolschewikische Avantgarde”.
Letzteres, wie auch immer ironisch überspitzt, wirft interessante Fragen nicht nur zu den Salzburger Festspielen auf, sondern auch zum Verhältnis von Kunst und Politik – bzw. zu verbreiteten Sichtweisen, wie dieses Verhältnis auszusehen habe.
1920, als die ersten Salzburger Festspiele stattfanden, gab es in Russland tatsächlich eine „bolschewikische Avantgarde“ – oder besser: Avantgarde-Künstler, die sich für die bolschewistische Revolution begeisterten und bei der neuen Führung auf offene Ohren stießen. Diese russische Moderne war schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts im repressiven Zarenreich erblüht. Von der Revolution versprachen sich die Künstler mehr Freiheit und bekamen sie auch, ein paar Jahre lang: bevor die Repressionen zunahmen und Stalins Terror einsetzte. Die russische Avantgarde war älter als der Bolschewismus und hat ihn nicht lange überlebt. Sie starb in den Todesmühlen der UdSSR.