Die Kulturwissenschaftlerin Penka Angelowa will das Erbe Elias Canettis für die Zukunft nutzen.
Schiffshörner müssen getrötet haben und Dampflokomotiven gepfiffen. Dazwischen aufgeregtes Schnattern der Passagiere, Schnaufen der Lastenträger, Rufe der Schaulustigen. In Russe wurde 1866 der erste Bahnhof auf bulgarischem Boden eröffnet, nur ein paar Schritte vom Donauufer entfernt. Drei mal in der Woche fuhr ein Personenzug von der Donaustadt Russe in die Schwarzmeerstadt Warna. „Hier pulsierte das Leben“, sagt Tanitschka Georgiewa, die durch das Transportmuseum im früheren Bahnhofsgebäude führt.
Doch der Russener Bahnhof war mehr als nur ein hübsches Steingebäude mit hölzernem Vordach, das die Reisenden vor Schlechtwetter schützte. Er verband die Donau mit dem Schwarzen Meer und das Osmanische Reich mit Europa: Reisende mussten allerdings eine kombinierte, damals freilich hochmoderne Reise mit Schiff, Bahn und (wieder) Schiff unternehmen. Zehn Stunden dauerte die Fahrt von Russe nach Warna, Geschwindigkeit: 20 Kilometer in der Stunde. 1967 fuhr Sultan Abdulaziz mit dem Zug zu seiner ersten Reise außerhalb der Grenzen des Osmanischen Reiches. In einem kobaltblauen, mit Gold verzierten Waggon mit integriertem Waschtisch und versteckter Toilette gondelte er in Richtung Paris und London - ab Russe musste er freilich das Schiff die Donau flussaufwärts nehmen.
Nach der Unabhängigkeit Bulgariens vom osmanischen Reich im späten 19. Jahrhundert trafen westliche Besucher in Scharen in Russe ein – auch aus Wien. Die Architektur im Stadtzentrum zeugt davon, etwa das Palais Battenberg, das der Architekt Friedrich Grünanger entwarf.
Heute ist das schnurgerade Donauufer vor dem Bahnhofsareal menschenleer. Die Bahn nimmt längst eine andere Route, der Personenverkehr an der unteren Donau ist Historie. Als Gäste kommen vor allem rumänische Einkaufstouristen. Die „Stadt des freien Geistes“ öffnet sich nur langsam wieder zur Welt. „Der Fluss war lange nur Abfluss, Russe entwickelte sich mit dem Rücken zur Donau“, sagt Penka Angelowa. Zwar weihte man 1954 feierlich die "Brücke der Freundschaft ein", doch die nachbarschaftlichen Beziehungen zum ebenfalls sozialistischen Rumänien waren getrübt. Noch in den frühen Sechziger Jahren organisierte man Donaudurchschwimmungen. Nach dem Prager Frühling 1968 (bulgarische Einheiten wirkten an der Niederschlagung mit, der rumänische Nicolae Ceausescu verweigerte eine Entsendung seines Militärs) wurde das Verhältnis zusehends kühler.
Angelowas Ziel ist, dass Russe wieder die Donau stärker zur Kenntnis nimmt – und damit die kulturellen Einflüsse, die der Fluss brachte und bringt. Der nimmermüden Russener Kulturwissenschaftlerin und Germanistin ist es zu verdanken, dass an der hiesigen Universität die erste Europäistik des Landes eingerichtet wurde; Angelowa ist Mitgründerin des Bulgarisch-Rumänischen Interuniversitären Europazentrums, kurz BRIE, wo in modernen Unterrichtsräumen Studenten über Maria Todorowas Standardwerk „Die Erfindung des Balkans“ diskutieren und sich fragen, wie viel Europa heute unter ihren Füßen zu spüren ist.
Angelowa erinnert gerne an einen großen Sohn der Stadt: Elias Canetti wurde 1905 im damaligen Rustschuk geboren. Er verbrachte hier seine ersten sechs Lebensjahr. In seinen Lebenserinnerungen „Die gerettete Zunge“ beschreibt er eine offene, multikulturelle Metropole. Angelowa will mit ihren Initiativen – zu denen auch die Internationale Canetti-Gesellschaft und ein Kulturzentrum im früheren Geschäftshaus der Familie Canetti gehört – diese Tradition wieder aufnehmen. Im Canetti Center finden derzeit alternative Kunstausstellungen statt, Parties, ja sogar ein Skaterfestival. Die Canettti Gesellschaft wiederum organisiert ein Literaturfestival, führt wissenschaftliche Veranstaltungen durch und gibt eine Schriftenreihe heraus. Ist das nicht ein fast zu ambitioniertes Programm für eine mittelgroße Stadt wie Russe? Angelowa verneint energisch. Es sei kein Zufall, dass diese Initiativen hier ihren Ausgang nehmen, denn in Russesei der "Funke nie ausgegangen". Und dass die Stadt am Rande Bulgariens liege, sei so gesehen kein Nachteil: Sie könne, so hofft Angelowa, erneut zum „Zentrum der Peripherie“ werden, wie sie es schon einmal war.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.04.2013)