Europas Sozialdemokraten und Sozialisten brauchten, was einst Gorbatschow der KPdSU verordnet hatte: Veränderung, Transparenz und „neues Denken“.
Eigentlich müssten dies besonders gedeihliche Zeiten für die linksgerichteten Parteien Europas sein: Finanzkrise, Schuldenkrise, Globalisierungskrise – und daraus resultierende steigende Arbeitslosigkeit, zunehmende Verarmung in immer breiteren Bevölkerungsschichten vor allem in den krisengeschüttelten Ländern des europäischen Südens und Südostens; damit verbunden eine wachsende Wohlstandskluft innerhalb des Kontinents; immer mehr erfolglos nach Arbeit suchende junge Menschen, denen jegliche Perspektive für ein „normales“ Leben fehlt; Hinwendung frustrierter Bevölkerungsschichten zu Populisten und Nationalisten, die ihnen rasche Lösungen versprechen und vermeintliche Sündenböcke für die Misere präsentieren. Negative Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft also, die gerade auf soziale Gerechtigkeit ausgerichtete Parteien eigentlich zu Hyperaktivität animieren sollten.
Welche Antworten aber haben Sozialdemokraten, Sozialisten oder radikale Linke auf die Multikrise? Außer dumpfen Aufrufen zu einer „Kehrtwende nach links zu einem demokratischen, sozialen und ökologischen Europa“, Schuldzuweisungen an unverantwortliche Banker und Forderungen, die Austeritätspolitik zugunsten neuer Wachstumsfinanzierungsprogramme aufzugeben, kommen aus dem linken Lager nicht viele kreative, durchdachte, nachvollziehbare Rezepte zur Krisenbekämpfung.
Aus der Sozialistischen Internationale, von der man annehmen könnte, dass sie auch als Denkfabrik zum Vergleichen und Diskutieren solcher Rezepte dient, kommen praktisch überhaupt keine Anstöße. Die SI hat sich zuletzt vor allem darum bemüht, durch Aufnahme regimenaher vermeintlicher Linksparteien aus aller Welt ein immer unbeweglicherer Moloch zu werden. Kein Wunder also, dass morgen in Leipzig mit der „Progressiven Allianz“ ein neuer internationaler Verbund linker Parteien das Licht der politischen Welt erblicken soll. Er könnte das Ende der Sozialistischen Internationale bedeuten.
Freilich, ein neuer Verbund heißt noch lange nicht, dass bald eine Flut von Vorschlägen und Initiativen aus dem linken Lager zur Überwindung der Krise kommen wird, dass Sozialdemokraten und Sozialisten die Gesellschaften zu gesellschaftlichen Umwälzungen animieren und mobilisieren können. Was die europäische Linke brauchen würde, ist, was einst Michail Gorbatschow der Sowjetunion und der KPdSU verordnet hatte: „Perestrojka“ (Veränderung), „Glasnost“ (Transparenz) und vor allem auch ein „neues Denken“.
Die heutige Schwäche des linken Lagers hängt natürlich damit zusammen, dass sein traditionelles Wählerpotenzial geschrumpft ist (das Problem haben auch konservative Parteien). Es hängt aber auch damit zusammen, dass es europaweit keine überragenden Führerpersönlichkeiten der Sozialdemokratie mehr gibt. Es ist gewiss immer Nostalgie im Spiel, wenn man an Brandt, Kreisky, Palme, Gonzalez erinnert. Was aber kam danach? Zum Beispiel Gerhard Schröder und Alfred Gusenbauer. Die beiden früheren sozialdemokratischen Führungspersönlichkeiten werfen heute ein eher schiefes Licht auch auf ihre eigene politische Heimat, indem sie sich – offenkundig aus reiner Geldgier – völlig ungeniert in den Dienst autokratischer Regime etwa in Moskau und Astana stellen.
Mit solchen „Leitfiguren“ wird die im linken und ultralinken Lager ersehnte Kehrtwende kaum gelingen. Aber eben auch nicht mit den erwähnten politischen Uralt-Kampfrezepten gegen böse Banker und Spekulanten. Die Krise hat ihre Wurzeln nicht allein im Fehlverhalten des Finanzsektors, sie hat selbstverständlich auch politische Verursacher. Dies alles gilt es ohne angestaubte ideologische Scheuklappen zu erforschen, zu analysieren und nach Auswegen zu suchen.
Und was mögliche sozialdemokratische Leitfiguren betrifft: Warum eigentlich redet im linken Lager heute so gut wie niemand mehr über Göran Persson? Der hat in den 1990er-Jahren das schwer verschuldete Schweden saniert und das Budget in Ordnung gebracht. Heute predigt er seinen Genossen, wie wichtig es sei, gerade auch finanzpolitisch glaubwürdig zu sein. Aber nur wenige wollen ihm zuhören.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.05.2013)